Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.Zweite Vorlesung. Individuen, die wir nicht mehr durch Begriffe darstellen, sondern nurdurch unsere Sinne wahrnehmen ("anschauen") können, ebenfalls vor¬ ausgegangen sein müssen. Nach der Stellung aus jenem Stromsystem bezeichnen wir die Begriffe nun noch wie in der Tafel angedeutet als "Artbegriffe" (Zusammenfassung der Individuen), "Gattungsbe¬ griffe" (Zusammenfassung der Arten), "Ordnungsbegriffe" (Zu¬ sammenfassung der Ordnungen). Es versteht sich wohl von selbst, daß die mitgetheilte Darstellung nur als Beispiel die Sache erläutern soll. In der That hängen alle unsere Begriffe in dieser Weise nach unzählig vielen Abstufungen zusammen, deren höchster und allgemeinster, oder nach dem Gleichniß vom Stromsystem, deren sie alle aufnehmender Ocean der Begriff "Vorstellung" sein würde. -- Dies ist der für jeden sorgfältigen psychologischen Beobachter sich Ebenso langsam aber, wie sich in der Geschichte der Menschheit die Zweite Vorleſung. Individuen, die wir nicht mehr durch Begriffe darſtellen, ſondern nurdurch unſere Sinne wahrnehmen („anſchauen“) können, ebenfalls vor¬ ausgegangen ſein müſſen. Nach der Stellung aus jenem Stromſyſtem bezeichnen wir die Begriffe nun noch wie in der Tafel angedeutet als „Artbegriffe“ (Zuſammenfaſſung der Individuen), „Gattungsbe¬ griffe“ (Zuſammenfaſſung der Arten), „Ordnungsbegriffe“ (Zu¬ ſammenfaſſung der Ordnungen). Es verſteht ſich wohl von ſelbſt, daß die mitgetheilte Darſtellung nur als Beiſpiel die Sache erläutern ſoll. In der That hängen alle unſere Begriffe in dieſer Weiſe nach unzählig vielen Abſtufungen zuſammen, deren höchſter und allgemeinſter, oder nach dem Gleichniß vom Stromſyſtem, deren ſie alle aufnehmender Ocean der Begriff „Vorſtellung“ ſein würde. — Dies iſt der für jeden ſorgfältigen pſychologiſchen Beobachter ſich Ebenſo langſam aber, wie ſich in der Geſchichte der Menſchheit die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0044" n="34"/><fw place="top" type="header">Zweite Vorleſung.<lb/></fw>Individuen, die wir nicht mehr durch Begriffe darſtellen, ſondern nur<lb/> durch unſere Sinne wahrnehmen („anſchauen“) können, ebenfalls vor¬<lb/> ausgegangen ſein müſſen. Nach der Stellung aus jenem Stromſyſtem<lb/> bezeichnen wir die Begriffe nun noch wie in der Tafel angedeutet als<lb/> „<hi rendition="#g">Artbegriffe</hi>“ (Zuſammenfaſſung der Individuen), „<hi rendition="#g">Gattungsbe¬<lb/> griffe</hi>“ (Zuſammenfaſſung der Arten), „<hi rendition="#g">Ordnungsbegriffe</hi>“ (Zu¬<lb/> ſammenfaſſung der Ordnungen). Es verſteht ſich wohl von ſelbſt, daß<lb/> die mitgetheilte Darſtellung nur als Beiſpiel die Sache erläutern ſoll.<lb/> In der That hängen alle unſere Begriffe in dieſer Weiſe nach unzählig<lb/> vielen Abſtufungen zuſammen, deren höchſter und allgemeinſter, oder<lb/> nach dem Gleichniß vom Stromſyſtem, deren ſie alle aufnehmender<lb/> Ocean der Begriff „<hi rendition="#g">Vorſtellung</hi>“ ſein würde. —</p><lb/> <p>Dies iſt der für jeden ſorgfältigen pſychologiſchen Beobachter ſich<lb/> ganz klar darlegende, wirkliche Vorgang in der menſchlichen Seele, ſo<lb/> entſtehen die engſten Begriffe durch „<hi rendition="#g">Abſehen</hi>“ von den individuellen<lb/> Zügen der einzelnen Erſcheinungen, d. h. durch „<hi rendition="#g">Abſtraction</hi>“ u. ſ. f.<lb/> Begriffe ſind alſo bloße Gedankendinge (Vorſtellungen), die ſich in<lb/> nothwendiger Geſetzlichkeit durch einen pſychologiſchen Proceß bilden,<lb/> ſind aber in der Wirklichkeit ſelbſt nicht vorhanden.</p><lb/> <p>Ebenſo langſam aber, wie ſich in der Geſchichte der Menſchheit die<lb/> Kunſt der Naturbeobachtung entwickelte, ebenſo langſam, ja ſelbſt noch<lb/> ſpäter, bildete ſich die Kunſt aus, das eigene Innere des Menſchen zu<lb/> beobachten, die Seele gleichſam in der geheimen Werkſtätte aller ihrer<lb/> Schöpfungen zu belauſchen. Nicht nur in der äußeren Natur irrte man<lb/> ſich vielfach und ſah Geſpenſter, ſondern auch in der inneren. Den<lb/> oben kurz geſchilderten Vorgang der Begriffsbildung kannte ſelbſt das<lb/> große Genie des <hi rendition="#g">Ariſtoteles</hi> noch nicht. Ihn führten einige unklare<lb/> Auffaſſungen an ſich richtiger Gedanken, die aber durch dieſe Unklarheit<lb/> zu <hi rendition="#g">Halb</hi>wahrheiten wurden, die immer, wie ein liebenswürdiger Bö¬<lb/> ſewicht, gefährlicher und verderblicher ſind, wie ganze Irrthümer. Ihm<lb/> ſchwebte dunkel vor, daß alles Geiſtige höheren Werth habe als das<lb/> Körperliche; daß man das Körperliche erſt dann erkennen könne, wenn<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [34/0044]
Zweite Vorleſung.
Individuen, die wir nicht mehr durch Begriffe darſtellen, ſondern nur
durch unſere Sinne wahrnehmen („anſchauen“) können, ebenfalls vor¬
ausgegangen ſein müſſen. Nach der Stellung aus jenem Stromſyſtem
bezeichnen wir die Begriffe nun noch wie in der Tafel angedeutet als
„Artbegriffe“ (Zuſammenfaſſung der Individuen), „Gattungsbe¬
griffe“ (Zuſammenfaſſung der Arten), „Ordnungsbegriffe“ (Zu¬
ſammenfaſſung der Ordnungen). Es verſteht ſich wohl von ſelbſt, daß
die mitgetheilte Darſtellung nur als Beiſpiel die Sache erläutern ſoll.
In der That hängen alle unſere Begriffe in dieſer Weiſe nach unzählig
vielen Abſtufungen zuſammen, deren höchſter und allgemeinſter, oder
nach dem Gleichniß vom Stromſyſtem, deren ſie alle aufnehmender
Ocean der Begriff „Vorſtellung“ ſein würde. —
Dies iſt der für jeden ſorgfältigen pſychologiſchen Beobachter ſich
ganz klar darlegende, wirkliche Vorgang in der menſchlichen Seele, ſo
entſtehen die engſten Begriffe durch „Abſehen“ von den individuellen
Zügen der einzelnen Erſcheinungen, d. h. durch „Abſtraction“ u. ſ. f.
Begriffe ſind alſo bloße Gedankendinge (Vorſtellungen), die ſich in
nothwendiger Geſetzlichkeit durch einen pſychologiſchen Proceß bilden,
ſind aber in der Wirklichkeit ſelbſt nicht vorhanden.
Ebenſo langſam aber, wie ſich in der Geſchichte der Menſchheit die
Kunſt der Naturbeobachtung entwickelte, ebenſo langſam, ja ſelbſt noch
ſpäter, bildete ſich die Kunſt aus, das eigene Innere des Menſchen zu
beobachten, die Seele gleichſam in der geheimen Werkſtätte aller ihrer
Schöpfungen zu belauſchen. Nicht nur in der äußeren Natur irrte man
ſich vielfach und ſah Geſpenſter, ſondern auch in der inneren. Den
oben kurz geſchilderten Vorgang der Begriffsbildung kannte ſelbſt das
große Genie des Ariſtoteles noch nicht. Ihn führten einige unklare
Auffaſſungen an ſich richtiger Gedanken, die aber durch dieſe Unklarheit
zu Halbwahrheiten wurden, die immer, wie ein liebenswürdiger Bö¬
ſewicht, gefährlicher und verderblicher ſind, wie ganze Irrthümer. Ihm
ſchwebte dunkel vor, daß alles Geiſtige höheren Werth habe als das
Körperliche; daß man das Körperliche erſt dann erkennen könne, wenn
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