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Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

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Erste Vorlesung.
canals, der den Mälarsee mit dem Finnischen Meerbusen verbindet,
64 Fuß unter der Oberfläche des Bodens gefundenen Fischerhütte, in
deren Flur man eine Art von Heerd, Holzkohlen und Reisigbündel
fand. Wir kennen den gegenwärtigen Betrag der Niveauveränderungen
der Schwedischen Ostküste sehr genau. Lyell hat sie für die hier in Be¬
tracht kommende Umgegend von Stockholm auf 10 Zoll für das
Jahrhundert berechnet.--Zugleich hat er eine vorhergehende Senkung,
wodurch eben jene Hütte mit Meeressand und Meeresmuscheln bedeckt
wurde nachgewiesen, die für die Umgebung von Stockholm wenig¬
stens 400 Fuß unter den jetzigen Spiegel der Ostsee betragen haben
muß, auf welche Senkung erst die jetzige Hebung folgte. Die sämmt¬
lichen hier in Betracht kommenden Verhältnisse beweisen, daß die Sen¬
kung wie die darauf folgende Hebung ganz ruhig und stetig, wie es
noch jetzt geschieht, ohne gewaltsame Revolutionen und Störungen vor
sich gegangen sind, und daß beide Bewegungen, die nach Unten und
nach Oben, durchaus der Neuzeit angehören. Beide Bewegungen zu¬
sammen zu 800 Fuß angenommen ergeben also nach dem obigen Ma߬
stab einen Zeitraum von 70--80,000 Jahren, der wenigstens vergan¬
gen sein muß, seit Fischer jene Hütte am Strande der Ostsee erbauten.

Ich könnte hier die Beispiele leicht vermehren, die von mir mitge¬
theilten genügen aber schon vollkommen, um die Gegenwart der Men¬
schen auf der Erde in der ganzen Neuzeit, also in einem Zeitraume von
wenigstens 100,000 Jahren zu erweisen. Ich wende mich deshalb lie¬
ber zu den Thatsachen, welche für eine noch viel frühere Existenz des
Menschen auf der Erde sprechen.

Wir werden hier in die eigentlich postpliocäne Formation hinein¬
geführt, in eine Periode unserer Erde, in der Elephanten (Mammuth)
Rhinoceros, Höhlen-Löwen, -Hyänen und -Bären das mittlere und
nördliche Europa belebten, der Mensch auf dieselben Jagd machte,
ihr Fleisch verzehrte, ihre Knochen aufschlug, um sich des Markes zu
bemächtigen und dann von den größeren und härteren Stücken sich
Lanzen und Pfeilspitzen zu neuen Jagdabenteuern schnitzte, wobei er

Erſte Vorleſung.
canals, der den Mälarſee mit dem Finniſchen Meerbuſen verbindet,
64 Fuß unter der Oberfläche des Bodens gefundenen Fiſcherhütte, in
deren Flur man eine Art von Heerd, Holzkohlen und Reiſigbündel
fand. Wir kennen den gegenwärtigen Betrag der Niveauveränderungen
der Schwediſchen Oſtküſte ſehr genau. Lyell hat ſie für die hier in Be¬
tracht kommende Umgegend von Stockholm auf 10 Zoll für das
Jahrhundert berechnet.—Zugleich hat er eine vorhergehende Senkung,
wodurch eben jene Hütte mit Meeresſand und Meeresmuſcheln bedeckt
wurde nachgewieſen, die für die Umgebung von Stockholm wenig¬
ſtens 400 Fuß unter den jetzigen Spiegel der Oſtſee betragen haben
muß, auf welche Senkung erſt die jetzige Hebung folgte. Die ſämmt¬
lichen hier in Betracht kommenden Verhältniſſe beweiſen, daß die Sen¬
kung wie die darauf folgende Hebung ganz ruhig und ſtetig, wie es
noch jetzt geſchieht, ohne gewaltſame Revolutionen und Störungen vor
ſich gegangen ſind, und daß beide Bewegungen, die nach Unten und
nach Oben, durchaus der Neuzeit angehören. Beide Bewegungen zu¬
ſammen zu 800 Fuß angenommen ergeben alſo nach dem obigen Ma߬
ſtab einen Zeitraum von 70—80,000 Jahren, der wenigſtens vergan¬
gen ſein muß, ſeit Fiſcher jene Hütte am Strande der Oſtſee erbauten.

Ich könnte hier die Beiſpiele leicht vermehren, die von mir mitge¬
theilten genügen aber ſchon vollkommen, um die Gegenwart der Men¬
ſchen auf der Erde in der ganzen Neuzeit, alſo in einem Zeitraume von
wenigſtens 100,000 Jahren zu erweiſen. Ich wende mich deshalb lie¬
ber zu den Thatſachen, welche für eine noch viel frühere Exiſtenz des
Menſchen auf der Erde ſprechen.

Wir werden hier in die eigentlich poſtpliocäne Formation hinein¬
geführt, in eine Periode unſerer Erde, in der Elephanten (Mammuth)
Rhinoceros, Höhlen-Löwen, -Hyänen und -Bären das mittlere und
nördliche Europa belebten, der Menſch auf dieſelben Jagd machte,
ihr Fleiſch verzehrte, ihre Knochen aufſchlug, um ſich des Markes zu
bemächtigen und dann von den größeren und härteren Stücken ſich
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[16/0026] Erſte Vorleſung. canals, der den Mälarſee mit dem Finniſchen Meerbuſen verbindet, 64 Fuß unter der Oberfläche des Bodens gefundenen Fiſcherhütte, in deren Flur man eine Art von Heerd, Holzkohlen und Reiſigbündel fand. Wir kennen den gegenwärtigen Betrag der Niveauveränderungen der Schwediſchen Oſtküſte ſehr genau. Lyell hat ſie für die hier in Be¬ tracht kommende Umgegend von Stockholm auf 10 Zoll für das Jahrhundert berechnet.—Zugleich hat er eine vorhergehende Senkung, wodurch eben jene Hütte mit Meeresſand und Meeresmuſcheln bedeckt wurde nachgewieſen, die für die Umgebung von Stockholm wenig¬ ſtens 400 Fuß unter den jetzigen Spiegel der Oſtſee betragen haben muß, auf welche Senkung erſt die jetzige Hebung folgte. Die ſämmt¬ lichen hier in Betracht kommenden Verhältniſſe beweiſen, daß die Sen¬ kung wie die darauf folgende Hebung ganz ruhig und ſtetig, wie es noch jetzt geſchieht, ohne gewaltſame Revolutionen und Störungen vor ſich gegangen ſind, und daß beide Bewegungen, die nach Unten und nach Oben, durchaus der Neuzeit angehören. Beide Bewegungen zu¬ ſammen zu 800 Fuß angenommen ergeben alſo nach dem obigen Ma߬ ſtab einen Zeitraum von 70—80,000 Jahren, der wenigſtens vergan¬ gen ſein muß, ſeit Fiſcher jene Hütte am Strande der Oſtſee erbauten. Ich könnte hier die Beiſpiele leicht vermehren, die von mir mitge¬ theilten genügen aber ſchon vollkommen, um die Gegenwart der Men¬ ſchen auf der Erde in der ganzen Neuzeit, alſo in einem Zeitraume von wenigſtens 100,000 Jahren zu erweiſen. Ich wende mich deshalb lie¬ ber zu den Thatſachen, welche für eine noch viel frühere Exiſtenz des Menſchen auf der Erde ſprechen. Wir werden hier in die eigentlich poſtpliocäne Formation hinein¬ geführt, in eine Periode unſerer Erde, in der Elephanten (Mammuth) Rhinoceros, Höhlen-Löwen, -Hyänen und -Bären das mittlere und nördliche Europa belebten, der Menſch auf dieſelben Jagd machte, ihr Fleiſch verzehrte, ihre Knochen aufſchlug, um ſich des Markes zu bemächtigen und dann von den größeren und härteren Stücken ſich Lanzen und Pfeilſpitzen zu neuen Jagdabenteuern ſchnitzte, wobei er

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/26>, abgerufen am 18.04.2024.