Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite

hervorgehen lassen wollen; sie dürften wohl et-
was ganz anders an die Stelle desjenigen setzen,
dessen Begriff sie verlohren haben. Mit einem
Worte: als natürliche Entwicklung der Vernunft
betrachtet, ist das indische System der Emana-
tion durchaus unerklärlich; als misverstandene
Offenbarung, ist alles darin ganz begreiflich.
So hätten wir also schon in der blos geschicht-
lichen Ansicht hinreichenden Anlaß zu vermuthen
und vorauszusetzen, was vielleicht andre und
höhere Gründe uns als gewiß anzunehmen be-
wegen müssen; daß derselbe, der den Menschen
so herrlich begabt und gebildet hatte, dem Neu-
geschaffenen einen Blick in die unendliche Tiefe
seines Wesens vergönnt und ihn dadurch aus
der Kette der sterblichen Wesen für immer empor
gerückt, und mit der unsichtbaren Welt in Ver-
bindung gesetzt habe, ihm das hohe aber gefähr-
liche Geschenk ewigen Glücks oder Unglücks
verleihend.

Nicht als Unterricht des Vaters in Bild
und ausdrücklichem Wort denke man sich diese
ursprüngliche Offenbarung, wiewohl auch dies
kein ganz leeres und unwürdiges Gleichniß

hervorgehen laſſen wollen; ſie duͤrften wohl et-
was ganz anders an die Stelle desjenigen ſetzen,
deſſen Begriff ſie verlohren haben. Mit einem
Worte: als natuͤrliche Entwicklung der Vernunft
betrachtet, iſt das indiſche Syſtem der Emana-
tion durchaus unerklaͤrlich; als misverſtandene
Offenbarung, iſt alles darin ganz begreiflich.
So haͤtten wir alſo ſchon in der blos geſchicht-
lichen Anſicht hinreichenden Anlaß zu vermuthen
und vorauszuſetzen, was vielleicht andre und
hoͤhere Gruͤnde uns als gewiß anzunehmen be-
wegen muͤſſen; daß derſelbe, der den Menſchen
ſo herrlich begabt und gebildet hatte, dem Neu-
geſchaffenen einen Blick in die unendliche Tiefe
ſeines Weſens vergoͤnnt und ihn dadurch aus
der Kette der ſterblichen Weſen fuͤr immer empor
geruͤckt, und mit der unſichtbaren Welt in Ver-
bindung geſetzt habe, ihm das hohe aber gefaͤhr-
liche Geſchenk ewigen Gluͤcks oder Ungluͤcks
verleihend.

Nicht als Unterricht des Vaters in Bild
und ausdruͤcklichem Wort denke man ſich dieſe
urſpruͤngliche Offenbarung, wiewohl auch dies
kein ganz leeres und unwuͤrdiges Gleichniß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0124" n="105"/>
hervorgehen la&#x017F;&#x017F;en wollen; &#x017F;ie du&#x0364;rften wohl et-<lb/>
was ganz anders an die Stelle desjenigen &#x017F;etzen,<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Begriff &#x017F;ie verlohren haben. Mit einem<lb/>
Worte: als natu&#x0364;rliche Entwicklung der Vernunft<lb/>
betrachtet, i&#x017F;t das indi&#x017F;che Sy&#x017F;tem der Emana-<lb/>
tion durchaus unerkla&#x0364;rlich; als misver&#x017F;tandene<lb/>
Offenbarung, i&#x017F;t alles darin ganz begreiflich.<lb/>
So ha&#x0364;tten wir al&#x017F;o &#x017F;chon in der blos ge&#x017F;chicht-<lb/>
lichen An&#x017F;icht hinreichenden Anlaß zu vermuthen<lb/>
und vorauszu&#x017F;etzen, was vielleicht andre und<lb/>
ho&#x0364;here Gru&#x0364;nde uns als gewiß anzunehmen be-<lb/>
wegen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en; daß der&#x017F;elbe, der den Men&#x017F;chen<lb/>
&#x017F;o herrlich begabt und gebildet hatte, dem Neu-<lb/>
ge&#x017F;chaffenen einen Blick in die unendliche Tiefe<lb/>
&#x017F;eines We&#x017F;ens vergo&#x0364;nnt und ihn dadurch aus<lb/>
der Kette der &#x017F;terblichen We&#x017F;en fu&#x0364;r immer empor<lb/>
geru&#x0364;ckt, und mit der un&#x017F;ichtbaren Welt in Ver-<lb/>
bindung ge&#x017F;etzt habe, ihm das hohe aber gefa&#x0364;hr-<lb/>
liche Ge&#x017F;chenk ewigen Glu&#x0364;cks oder Unglu&#x0364;cks<lb/>
verleihend.</p><lb/>
          <p>Nicht als Unterricht des Vaters in Bild<lb/>
und ausdru&#x0364;cklichem Wort denke man &#x017F;ich die&#x017F;e<lb/>
ur&#x017F;pru&#x0364;ngliche Offenbarung, wiewohl auch dies<lb/>
kein ganz leeres und unwu&#x0364;rdiges Gleichniß<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[105/0124] hervorgehen laſſen wollen; ſie duͤrften wohl et- was ganz anders an die Stelle desjenigen ſetzen, deſſen Begriff ſie verlohren haben. Mit einem Worte: als natuͤrliche Entwicklung der Vernunft betrachtet, iſt das indiſche Syſtem der Emana- tion durchaus unerklaͤrlich; als misverſtandene Offenbarung, iſt alles darin ganz begreiflich. So haͤtten wir alſo ſchon in der blos geſchicht- lichen Anſicht hinreichenden Anlaß zu vermuthen und vorauszuſetzen, was vielleicht andre und hoͤhere Gruͤnde uns als gewiß anzunehmen be- wegen muͤſſen; daß derſelbe, der den Menſchen ſo herrlich begabt und gebildet hatte, dem Neu- geſchaffenen einen Blick in die unendliche Tiefe ſeines Weſens vergoͤnnt und ihn dadurch aus der Kette der ſterblichen Weſen fuͤr immer empor geruͤckt, und mit der unſichtbaren Welt in Ver- bindung geſetzt habe, ihm das hohe aber gefaͤhr- liche Geſchenk ewigen Gluͤcks oder Ungluͤcks verleihend. Nicht als Unterricht des Vaters in Bild und ausdruͤcklichem Wort denke man ſich dieſe urſpruͤngliche Offenbarung, wiewohl auch dies kein ganz leeres und unwuͤrdiges Gleichniß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_indier_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_indier_1808/124
Zitationshilfe: Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_indier_1808/124>, abgerufen am 30.04.2024.