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Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808.

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lichkeit bei aller sonstigen äussern Verschiedenheit
der Entwicklung, doch noch auf einen verwand-
ten Ursprung hindeutet. Es fehlt auch hier
nicht an sehr überraschenden, und gewiß nicht
blos zufälligen Uebereinstimmungen. Doch wird
hier eine fast noch strengere Vorsicht erfordert,
als bei der Sprache, denn die Mythologie ist in
ihren Einzelnheiten noch schwankender und schwe-
bender, und der flüchtige zarte Geist oft noch
schwerer zu ergreifen, als in der Sprache. My-
thologie ist das verflochtenste Gebilde des mensch-
lichen Geistes; unendlich reich, aber auch höchst
veränderlich in seiner Bedeutung, die doch allein
das Wesentliche ist; darum muß alles und jedes
in seiner ganzen Eigenthümlichkeit nach Zeit und
Ort aufgegriffen werden, und selbst die geringste
Verschiedenheit ist hier wichtig. Die griechische
und römische Mythologie z. B. sind wir gewohnt,
wo es nicht auf historische Genauigkeit ankommt,
für dieselbe anzunehmen und gelten zu lassen;
wie groß aber die Verschiedenheit sei, ist den-
jenigen bekannt, welche in die ältern Zeiten bei-
der Völker zurückgegangen sind, so daß man
gewiß sehr Unrecht hätte, Venus und Aphrodite,

lichkeit bei aller ſonſtigen aͤuſſern Verſchiedenheit
der Entwicklung, doch noch auf einen verwand-
ten Urſprung hindeutet. Es fehlt auch hier
nicht an ſehr uͤberraſchenden, und gewiß nicht
blos zufaͤlligen Uebereinſtimmungen. Doch wird
hier eine faſt noch ſtrengere Vorſicht erfordert,
als bei der Sprache, denn die Mythologie iſt in
ihren Einzelnheiten noch ſchwankender und ſchwe-
bender, und der fluͤchtige zarte Geiſt oft noch
ſchwerer zu ergreifen, als in der Sprache. My-
thologie iſt das verflochtenſte Gebilde des menſch-
lichen Geiſtes; unendlich reich, aber auch hoͤchſt
veraͤnderlich in ſeiner Bedeutung, die doch allein
das Weſentliche iſt; darum muß alles und jedes
in ſeiner ganzen Eigenthuͤmlichkeit nach Zeit und
Ort aufgegriffen werden, und ſelbſt die geringſte
Verſchiedenheit iſt hier wichtig. Die griechiſche
und roͤmiſche Mythologie z. B. ſind wir gewohnt,
wo es nicht auf hiſtoriſche Genauigkeit ankommt,
fuͤr dieſelbe anzunehmen und gelten zu laſſen;
wie groß aber die Verſchiedenheit ſei, iſt den-
jenigen bekannt, welche in die aͤltern Zeiten bei-
der Voͤlker zuruͤckgegangen ſind, ſo daß man
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[91/0110] lichkeit bei aller ſonſtigen aͤuſſern Verſchiedenheit der Entwicklung, doch noch auf einen verwand- ten Urſprung hindeutet. Es fehlt auch hier nicht an ſehr uͤberraſchenden, und gewiß nicht blos zufaͤlligen Uebereinſtimmungen. Doch wird hier eine faſt noch ſtrengere Vorſicht erfordert, als bei der Sprache, denn die Mythologie iſt in ihren Einzelnheiten noch ſchwankender und ſchwe- bender, und der fluͤchtige zarte Geiſt oft noch ſchwerer zu ergreifen, als in der Sprache. My- thologie iſt das verflochtenſte Gebilde des menſch- lichen Geiſtes; unendlich reich, aber auch hoͤchſt veraͤnderlich in ſeiner Bedeutung, die doch allein das Weſentliche iſt; darum muß alles und jedes in ſeiner ganzen Eigenthuͤmlichkeit nach Zeit und Ort aufgegriffen werden, und ſelbſt die geringſte Verſchiedenheit iſt hier wichtig. Die griechiſche und roͤmiſche Mythologie z. B. ſind wir gewohnt, wo es nicht auf hiſtoriſche Genauigkeit ankommt, fuͤr dieſelbe anzunehmen und gelten zu laſſen; wie groß aber die Verſchiedenheit ſei, iſt den- jenigen bekannt, welche in die aͤltern Zeiten bei- der Voͤlker zuruͤckgegangen ſind, ſo daß man gewiß ſehr Unrecht haͤtte, Venus und Aphrodite,

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Zitationshilfe: Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_indier_1808/110>, abgerufen am 30.04.2024.