Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800.

Bild:
<< vorherige Seite

Es ist aller Kunst wesentlich eigen, sich an das Gebildete anzuschließen, und darum steigt die Geschichte von Geschlecht zu Geschlecht, von Stufe zu Stufe immer höher ins Alterthum zurück, bis zur ersten ursprünglichen Quelle.

Für uns Neuere, für Europa liegt diese Quelle in Hellas, und für die Hellenen und ihre Poesie war es Homeros und die alte Schule der Homeriden. Eine unversiegbare Quelle allbildsamer Dichtung war es, ein mächtiger Strom der Darstellung wo eine Woge des Lebens auf die andre rauscht, ein ruhiges Meer, wo sich die Fülle der Erde und der Glanz des Himmels freundlich spiegeln. Wie die Weisen den Anfang der Natur im Wasser suchen, so zeigt sich die älteste Poesie in flüßiger Gestalt.

Um zwey verschiedene Mittelpunkte vereinigte sich die Masse der Sage und des Gesanges. Hier ein großes gemeinsames Unternehmen, ein Gedränge von Kraft und Zwiespalt, der Ruhm des Tapfersten; dort die Fülle des Sinnlichen, Neuen, Fremden, Reizenden, das Glück einer Familie, ein Bild der gewandtesten Klugheit, wie ihr endlich die erschwerte Heimkehr dennoch gelingt. Durch diese ursprüngliche Absonderung ward das vorbereitet und gebildet, was wir Jlias und Odyssee nennen, und was in ihr eben einen festen Anhalt fand, um vor andern Gesängen der gleichen Zeit für die Nachwelt zu bleiben.

Jn dem Gewächs der Homerischen sehen wir gleichsam das Entstehen aller Poesie; aber die Wurzeln entziehn sich dem Blick, und die Blüthen und

Es ist aller Kunst wesentlich eigen, sich an das Gebildete anzuschließen, und darum steigt die Geschichte von Geschlecht zu Geschlecht, von Stufe zu Stufe immer hoͤher ins Alterthum zuruͤck, bis zur ersten urspruͤnglichen Quelle.

Fuͤr uns Neuere, fuͤr Europa liegt diese Quelle in Hellas, und fuͤr die Hellenen und ihre Poesie war es Homeros und die alte Schule der Homeriden. Eine unversiegbare Quelle allbildsamer Dichtung war es, ein maͤchtiger Strom der Darstellung wo eine Woge des Lebens auf die andre rauscht, ein ruhiges Meer, wo sich die Fuͤlle der Erde und der Glanz des Himmels freundlich spiegeln. Wie die Weisen den Anfang der Natur im Wasser suchen, so zeigt sich die aͤlteste Poesie in fluͤßiger Gestalt.

Um zwey verschiedene Mittelpunkte vereinigte sich die Masse der Sage und des Gesanges. Hier ein großes gemeinsames Unternehmen, ein Gedraͤnge von Kraft und Zwiespalt, der Ruhm des Tapfersten; dort die Fuͤlle des Sinnlichen, Neuen, Fremden, Reizenden, das Gluͤck einer Familie, ein Bild der gewandtesten Klugheit, wie ihr endlich die erschwerte Heimkehr dennoch gelingt. Durch diese urspruͤngliche Absonderung ward das vorbereitet und gebildet, was wir Jlias und Odyssee nennen, und was in ihr eben einen festen Anhalt fand, um vor andern Gesaͤngen der gleichen Zeit fuͤr die Nachwelt zu bleiben.

Jn dem Gewaͤchs der Homerischen sehen wir gleichsam das Entstehen aller Poesie; aber die Wurzeln entziehn sich dem Blick, und die Bluͤthen und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0076" n="68"/>
            <p>Es ist aller Kunst wesentlich eigen, sich an das Gebildete anzuschließen, und darum steigt die Geschichte von Geschlecht zu Geschlecht, von Stufe zu Stufe immer ho&#x0364;her ins Alterthum zuru&#x0364;ck, bis zur ersten urspru&#x0364;nglichen Quelle.</p><lb/>
            <p>Fu&#x0364;r uns Neuere, fu&#x0364;r Europa liegt diese Quelle in Hellas, und fu&#x0364;r die Hellenen und ihre Poesie war es Homeros und die alte Schule der Homeriden. Eine unversiegbare Quelle allbildsamer Dichtung war es, ein ma&#x0364;chtiger Strom der Darstellung wo eine Woge des Lebens auf die andre rauscht, ein ruhiges Meer, wo sich die Fu&#x0364;lle der Erde und der Glanz des Himmels freundlich spiegeln. Wie die Weisen den Anfang der Natur im Wasser suchen, so zeigt sich die a&#x0364;lteste Poesie in flu&#x0364;ßiger Gestalt.</p><lb/>
            <p>Um zwey verschiedene Mittelpunkte vereinigte sich die Masse der Sage und des Gesanges. Hier ein großes gemeinsames Unternehmen, ein Gedra&#x0364;nge von Kraft und Zwiespalt, der Ruhm des Tapfersten; dort die Fu&#x0364;lle des Sinnlichen, Neuen, Fremden, Reizenden, das Glu&#x0364;ck einer Familie, ein Bild der gewandtesten Klugheit, wie ihr endlich die erschwerte Heimkehr dennoch gelingt. Durch diese urspru&#x0364;ngliche Absonderung ward das vorbereitet und gebildet, was wir Jlias und Odyssee nennen, und was in ihr eben einen festen Anhalt fand, um vor andern Gesa&#x0364;ngen der gleichen Zeit fu&#x0364;r die Nachwelt zu bleiben.</p><lb/>
            <p>Jn dem Gewa&#x0364;chs der Homerischen sehen wir gleichsam das Entstehen aller Poesie; aber die Wurzeln entziehn sich dem Blick, und die Blu&#x0364;then und
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0076] Es ist aller Kunst wesentlich eigen, sich an das Gebildete anzuschließen, und darum steigt die Geschichte von Geschlecht zu Geschlecht, von Stufe zu Stufe immer hoͤher ins Alterthum zuruͤck, bis zur ersten urspruͤnglichen Quelle. Fuͤr uns Neuere, fuͤr Europa liegt diese Quelle in Hellas, und fuͤr die Hellenen und ihre Poesie war es Homeros und die alte Schule der Homeriden. Eine unversiegbare Quelle allbildsamer Dichtung war es, ein maͤchtiger Strom der Darstellung wo eine Woge des Lebens auf die andre rauscht, ein ruhiges Meer, wo sich die Fuͤlle der Erde und der Glanz des Himmels freundlich spiegeln. Wie die Weisen den Anfang der Natur im Wasser suchen, so zeigt sich die aͤlteste Poesie in fluͤßiger Gestalt. Um zwey verschiedene Mittelpunkte vereinigte sich die Masse der Sage und des Gesanges. Hier ein großes gemeinsames Unternehmen, ein Gedraͤnge von Kraft und Zwiespalt, der Ruhm des Tapfersten; dort die Fuͤlle des Sinnlichen, Neuen, Fremden, Reizenden, das Gluͤck einer Familie, ein Bild der gewandtesten Klugheit, wie ihr endlich die erschwerte Heimkehr dennoch gelingt. Durch diese urspruͤngliche Absonderung ward das vorbereitet und gebildet, was wir Jlias und Odyssee nennen, und was in ihr eben einen festen Anhalt fand, um vor andern Gesaͤngen der gleichen Zeit fuͤr die Nachwelt zu bleiben. Jn dem Gewaͤchs der Homerischen sehen wir gleichsam das Entstehen aller Poesie; aber die Wurzeln entziehn sich dem Blick, und die Bluͤthen und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/76
Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/76>, abgerufen am 09.11.2024.