Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800.

Bild:
<< vorherige Seite

Gedichts zu verstehen, sind wir fähig, weil auch ein Theil des Dichters, ein Funke seines schaffenden Geistes in uns lebt und tief unter der Asche der selbstgemachten Unvernunft mit heimlicher Gewalt zu glühen niemals aufhört.

Es ist nicht nöthig, daß irgend jemand sich bestrebe, etwa durch vernünftige Reden und Lehren die Poesie zu erhalten und fortzupflanzen, oder gar sie erst hervorzubringen, zu erfinden, aufzustellen und ihr strafende Gesetze zu geben, wie es die Theorie der Dichtkunst so gern möchte. Wie der Kern der Erde sich von selbst mit Gebilden und Gewächsen bekleidete, wie das Leben von selbst aus der Tiefe hervorsprang, und alles voll ward von Wesen die sich fröhlich vermehrten; so blüht auch Poesie von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor, wenn der erwärmende Strahl der göttlichen Sonne sie trifft und befruchtet. Nur Gestalt und Farbe können es nachbildend ausdrücken, wie der Mensch gebildet ist; und so läßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie.

Die Ansicht eines jeden von ihr ist wahr und gut, in so fern sie selbst Poesie ist. Da nun aber seine Poesie, eben weil es die seine ist, beschränkt seyn muß, so kann auch seine Ansicht der Poesie nicht anders als beschränkt seyn. Dieses kann der Geist nicht ertragen, ohne Zweifel weil er, ohne es zu wissen, es dennoch weiß, daß kein Mensch schlechthin nur ein Mensch ist, sondern zugleich auch die ganze Menschheit wirklich und in Wahrheit seyn kann und soll. Darum geht

Gedichts zu verstehen, sind wir faͤhig, weil auch ein Theil des Dichters, ein Funke seines schaffenden Geistes in uns lebt und tief unter der Asche der selbstgemachten Unvernunft mit heimlicher Gewalt zu gluͤhen niemals aufhoͤrt.

Es ist nicht noͤthig, daß irgend jemand sich bestrebe, etwa durch vernuͤnftige Reden und Lehren die Poesie zu erhalten und fortzupflanzen, oder gar sie erst hervorzubringen, zu erfinden, aufzustellen und ihr strafende Gesetze zu geben, wie es die Theorie der Dichtkunst so gern moͤchte. Wie der Kern der Erde sich von selbst mit Gebilden und Gewaͤchsen bekleidete, wie das Leben von selbst aus der Tiefe hervorsprang, und alles voll ward von Wesen die sich froͤhlich vermehrten; so bluͤht auch Poesie von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor, wenn der erwaͤrmende Strahl der goͤttlichen Sonne sie trifft und befruchtet. Nur Gestalt und Farbe koͤnnen es nachbildend ausdruͤcken, wie der Mensch gebildet ist; und so laͤßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie.

Die Ansicht eines jeden von ihr ist wahr und gut, in so fern sie selbst Poesie ist. Da nun aber seine Poesie, eben weil es die seine ist, beschraͤnkt seyn muß, so kann auch seine Ansicht der Poesie nicht anders als beschraͤnkt seyn. Dieses kann der Geist nicht ertragen, ohne Zweifel weil er, ohne es zu wissen, es dennoch weiß, daß kein Mensch schlechthin nur ein Mensch ist, sondern zugleich auch die ganze Menschheit wirklich und in Wahrheit seyn kann und soll. Darum geht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0068" n="60"/>
Gedichts zu verstehen, sind wir fa&#x0364;hig, weil auch ein Theil des Dichters, ein Funke seines schaffenden Geistes in uns lebt und tief unter der Asche der selbstgemachten Unvernunft mit heimlicher Gewalt zu glu&#x0364;hen niemals aufho&#x0364;rt.</p><lb/>
          <p>Es ist nicht no&#x0364;thig, daß irgend jemand sich bestrebe, etwa durch vernu&#x0364;nftige Reden und Lehren die Poesie zu erhalten und fortzupflanzen, oder gar sie erst hervorzubringen, zu erfinden, aufzustellen und ihr strafende Gesetze zu geben, wie es die Theorie der Dichtkunst so gern mo&#x0364;chte. Wie der Kern der Erde sich von selbst mit Gebilden und Gewa&#x0364;chsen bekleidete, wie das Leben von selbst aus der Tiefe hervorsprang, und alles voll ward von Wesen die sich fro&#x0364;hlich vermehrten; so blu&#x0364;ht auch Poesie von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor, wenn der erwa&#x0364;rmende Strahl der go&#x0364;ttlichen Sonne sie trifft und befruchtet. Nur Gestalt und Farbe ko&#x0364;nnen es nachbildend ausdru&#x0364;cken, wie der Mensch gebildet ist; und so la&#x0364;ßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie.</p><lb/>
          <p>Die Ansicht eines jeden von ihr ist wahr und gut, in so fern sie selbst Poesie ist. Da nun aber seine Poesie, eben weil es die seine ist, beschra&#x0364;nkt seyn muß, so kann auch seine Ansicht der Poesie nicht anders als beschra&#x0364;nkt seyn. Dieses kann der Geist nicht ertragen, ohne Zweifel weil er, ohne es zu wissen, es dennoch weiß, daß kein Mensch schlechthin nur ein Mensch ist, sondern zugleich auch die ganze Menschheit wirklich und in Wahrheit seyn kann und soll. Darum geht
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0068] Gedichts zu verstehen, sind wir faͤhig, weil auch ein Theil des Dichters, ein Funke seines schaffenden Geistes in uns lebt und tief unter der Asche der selbstgemachten Unvernunft mit heimlicher Gewalt zu gluͤhen niemals aufhoͤrt. Es ist nicht noͤthig, daß irgend jemand sich bestrebe, etwa durch vernuͤnftige Reden und Lehren die Poesie zu erhalten und fortzupflanzen, oder gar sie erst hervorzubringen, zu erfinden, aufzustellen und ihr strafende Gesetze zu geben, wie es die Theorie der Dichtkunst so gern moͤchte. Wie der Kern der Erde sich von selbst mit Gebilden und Gewaͤchsen bekleidete, wie das Leben von selbst aus der Tiefe hervorsprang, und alles voll ward von Wesen die sich froͤhlich vermehrten; so bluͤht auch Poesie von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor, wenn der erwaͤrmende Strahl der goͤttlichen Sonne sie trifft und befruchtet. Nur Gestalt und Farbe koͤnnen es nachbildend ausdruͤcken, wie der Mensch gebildet ist; und so laͤßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie. Die Ansicht eines jeden von ihr ist wahr und gut, in so fern sie selbst Poesie ist. Da nun aber seine Poesie, eben weil es die seine ist, beschraͤnkt seyn muß, so kann auch seine Ansicht der Poesie nicht anders als beschraͤnkt seyn. Dieses kann der Geist nicht ertragen, ohne Zweifel weil er, ohne es zu wissen, es dennoch weiß, daß kein Mensch schlechthin nur ein Mensch ist, sondern zugleich auch die ganze Menschheit wirklich und in Wahrheit seyn kann und soll. Darum geht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/68
Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/68>, abgerufen am 24.11.2024.