Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.Bemerken Sie auch die schöne Senkung des Hauptes. Man hat sie bey den Götterstatuen so erklären wollen, als neigten sie sich den Gebeten der Sterblichen entgegen. Sie sehen aber an dem Haarputze, den anliegenden Locken, die von der Stirn zurückgehn, so wie am Gesichte selbst, daß dieses das Bildniß einer Matrone und keine Göttin ist. Mir scheint vielmehr, die alten Künstler haben den obern Theil des Gesichtes auch durch die Stellung vor dem Untertheil wollen vortreten lassen, so wie sie es schon durch die Bildung des Profiles herrschend gemacht hatten. Louise. Es giebt den Statuen ein kontemplatives Ansehen: sie halten den Zuschauern durch ihr Beyspiel vor, wie sie genossen zu werden verlangen. Jch bin aber heute gar nicht kontemplativ gestimmt, sondern gesellig und zum Plaudern. Kommen Sie, lassen Sie uns unsern Reinhold begrüßen: er zeichnet dort unten nach dem herrlichen Rumpf des Ringers. Eben ist er aufgestanden. -- Wie gehts, lieber Reinhold? Sie scheinen verdrießlich. Reinhold. Die Zeichnung will nicht nach meinem Sinne werden. Louise. Es geht Jhnen, wie Wallern auch mitunter, wenn er sich an den Pindar oder Sophokles macht. Er hat zum Uebersetzen nur Deutsche Worte, Töne und Rhythmen, Sie nur schwarze Kreide. Reinhold. Ach, wenn meine Zeichnung eine Uebersetzung wäre! Sie ist kaum ein dürftiger Auszug, deren man hundert verschiedne machen könnte. Will ich alles übertragen, was ich an den Umrissen Bemerken Sie auch die schoͤne Senkung des Hauptes. Man hat sie bey den Goͤtterstatuen so erklaͤren wollen, als neigten sie sich den Gebeten der Sterblichen entgegen. Sie sehen aber an dem Haarputze, den anliegenden Locken, die von der Stirn zuruͤckgehn, so wie am Gesichte selbst, daß dieses das Bildniß einer Matrone und keine Goͤttin ist. Mir scheint vielmehr, die alten Kuͤnstler haben den obern Theil des Gesichtes auch durch die Stellung vor dem Untertheil wollen vortreten lassen, so wie sie es schon durch die Bildung des Profiles herrschend gemacht hatten. Louise. Es giebt den Statuen ein kontemplatives Ansehen: sie halten den Zuschauern durch ihr Beyspiel vor, wie sie genossen zu werden verlangen. Jch bin aber heute gar nicht kontemplativ gestimmt, sondern gesellig und zum Plaudern. Kommen Sie, lassen Sie uns unsern Reinhold begruͤßen: er zeichnet dort unten nach dem herrlichen Rumpf des Ringers. Eben ist er aufgestanden. — Wie gehts, lieber Reinhold? Sie scheinen verdrießlich. Reinhold. Die Zeichnung will nicht nach meinem Sinne werden. Louise. Es geht Jhnen, wie Wallern auch mitunter, wenn er sich an den Pindar oder Sophokles macht. Er hat zum Uebersetzen nur Deutsche Worte, Toͤne und Rhythmen, Sie nur schwarze Kreide. Reinhold. Ach, wenn meine Zeichnung eine Uebersetzung waͤre! Sie ist kaum ein duͤrftiger Auszug, deren man hundert verschiedne machen koͤnnte. Will ich alles uͤbertragen, was ich an den Umrissen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0052" n="44"/> Bemerken Sie auch die schoͤne Senkung des Hauptes. Man hat sie bey den Goͤtterstatuen so erklaͤren wollen, als neigten sie sich den Gebeten der Sterblichen entgegen. Sie sehen aber an dem Haarputze, den anliegenden Locken, die von der Stirn zuruͤckgehn, so wie am Gesichte selbst, daß dieses das Bildniß einer Matrone und keine Goͤttin ist. Mir scheint vielmehr, die alten Kuͤnstler haben den obern Theil des Gesichtes auch durch die Stellung vor dem Untertheil wollen vortreten lassen, so wie sie es schon durch die Bildung des Profiles herrschend gemacht hatten.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Louise</hi>. Es giebt den Statuen ein kontemplatives Ansehen: sie halten den Zuschauern durch ihr Beyspiel vor, wie sie genossen zu werden verlangen. Jch bin aber heute gar nicht kontemplativ gestimmt, sondern gesellig und zum Plaudern. Kommen Sie, lassen Sie uns unsern Reinhold begruͤßen: er zeichnet dort unten nach dem herrlichen Rumpf des Ringers. Eben ist er aufgestanden. — Wie gehts, lieber Reinhold? Sie scheinen verdrießlich.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Reinhold</hi>. Die Zeichnung will nicht nach meinem Sinne werden.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Louise</hi>. Es geht Jhnen, wie Wallern auch mitunter, wenn er sich an den Pindar oder Sophokles macht. Er hat zum Uebersetzen nur Deutsche Worte, Toͤne und Rhythmen, Sie nur schwarze Kreide.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Reinhold</hi>. Ach, wenn meine Zeichnung eine Uebersetzung waͤre! Sie ist kaum ein duͤrftiger Auszug, deren man hundert verschiedne machen koͤnnte. Will ich alles uͤbertragen, was ich an den Umrissen </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [44/0052]
Bemerken Sie auch die schoͤne Senkung des Hauptes. Man hat sie bey den Goͤtterstatuen so erklaͤren wollen, als neigten sie sich den Gebeten der Sterblichen entgegen. Sie sehen aber an dem Haarputze, den anliegenden Locken, die von der Stirn zuruͤckgehn, so wie am Gesichte selbst, daß dieses das Bildniß einer Matrone und keine Goͤttin ist. Mir scheint vielmehr, die alten Kuͤnstler haben den obern Theil des Gesichtes auch durch die Stellung vor dem Untertheil wollen vortreten lassen, so wie sie es schon durch die Bildung des Profiles herrschend gemacht hatten.
Louise. Es giebt den Statuen ein kontemplatives Ansehen: sie halten den Zuschauern durch ihr Beyspiel vor, wie sie genossen zu werden verlangen. Jch bin aber heute gar nicht kontemplativ gestimmt, sondern gesellig und zum Plaudern. Kommen Sie, lassen Sie uns unsern Reinhold begruͤßen: er zeichnet dort unten nach dem herrlichen Rumpf des Ringers. Eben ist er aufgestanden. — Wie gehts, lieber Reinhold? Sie scheinen verdrießlich.
Reinhold. Die Zeichnung will nicht nach meinem Sinne werden.
Louise. Es geht Jhnen, wie Wallern auch mitunter, wenn er sich an den Pindar oder Sophokles macht. Er hat zum Uebersetzen nur Deutsche Worte, Toͤne und Rhythmen, Sie nur schwarze Kreide.
Reinhold. Ach, wenn meine Zeichnung eine Uebersetzung waͤre! Sie ist kaum ein duͤrftiger Auszug, deren man hundert verschiedne machen koͤnnte. Will ich alles uͤbertragen, was ich an den Umrissen
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Zitationshilfe: | Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1799/52>, abgerufen am 16.07.2024. |