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Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.

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wird. Die Personen, welche den kleinen Moses dem Nil anvertrauen, nehmen näheren Antheil an seinem Schicksal, als die, welche ihn zufällig entdecken: diesen Augenblick umgiebt eine glänzende geräuschvolle Gegenwart, jenen erfüllt eine stille aber innige Handlung. Ein höchst verletzbares Geschöpf wird von der, die es am zärtlichsten liebt, einem unsichern Element übergeben, um es menschlichen Verfolgungen zu entziehen. Diese Lage der Mutter, ihre hoffende Besorgniß, ihre zweifelnde Vorahndung, und den Muth, zu dem sie geängstigt worden ist, läßt Poussin uns in ihrer Stellung und Geberde fühlen. Doch bleibt ihr schönes Profil unentstellt von diesen Regungen. Das Auge ist auf den Säugling gerichtet, der zu ihren Füßen in die Kiste gelegt wird, der Mund unmerklich geöffnet; sie wagt nicht einmal laut zu seufzen. Die Arme nicht ganz ausgestreckt, nur von den Ellbogen an emporgehoben, und die wenig gekrümmten Finger beyder Hände von einander entfernt: sie begleitet damit so natürlich die Bewegungen des Gegenstandes, den sie nun schon nicht mehr erreicht, damit er nirgends anstoßen soll. Vor ihr ist ein Knecht, bis auf ein rothes Tuch um die Hüften unbekleidet, damit beschäftigt, das Kind in der Kiste zu verwahren. Er kniet vortrefflich, er streckt die Hände nach der Kiste wacker aus, die Handlung seines ausgearbeiteten und edlen Körpers ist mehr als akademisch: solche Figuren sieht man auf alten Basreliefs Dienste bey Opfern verrichten. Hinter der Mutter eine weibliche Gestalt, wie die beyden eben geschilderten im Profil

wird. Die Personen, welche den kleinen Moses dem Nil anvertrauen, nehmen naͤheren Antheil an seinem Schicksal, als die, welche ihn zufaͤllig entdecken: diesen Augenblick umgiebt eine glaͤnzende geraͤuschvolle Gegenwart, jenen erfuͤllt eine stille aber innige Handlung. Ein hoͤchst verletzbares Geschoͤpf wird von der, die es am zaͤrtlichsten liebt, einem unsichern Element uͤbergeben, um es menschlichen Verfolgungen zu entziehen. Diese Lage der Mutter, ihre hoffende Besorgniß, ihre zweifelnde Vorahndung, und den Muth, zu dem sie geaͤngstigt worden ist, laͤßt Poussin uns in ihrer Stellung und Geberde fuͤhlen. Doch bleibt ihr schoͤnes Profil unentstellt von diesen Regungen. Das Auge ist auf den Saͤugling gerichtet, der zu ihren Fuͤßen in die Kiste gelegt wird, der Mund unmerklich geoͤffnet; sie wagt nicht einmal laut zu seufzen. Die Arme nicht ganz ausgestreckt, nur von den Ellbogen an emporgehoben, und die wenig gekruͤmmten Finger beyder Haͤnde von einander entfernt: sie begleitet damit so natuͤrlich die Bewegungen des Gegenstandes, den sie nun schon nicht mehr erreicht, damit er nirgends anstoßen soll. Vor ihr ist ein Knecht, bis auf ein rothes Tuch um die Huͤften unbekleidet, damit beschaͤftigt, das Kind in der Kiste zu verwahren. Er kniet vortrefflich, er streckt die Haͤnde nach der Kiste wacker aus, die Handlung seines ausgearbeiteten und edlen Koͤrpers ist mehr als akademisch: solche Figuren sieht man auf alten Basreliefs Dienste bey Opfern verrichten. Hinter der Mutter eine weibliche Gestalt, wie die beyden eben geschilderten im Profil

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[116/0124] wird. Die Personen, welche den kleinen Moses dem Nil anvertrauen, nehmen naͤheren Antheil an seinem Schicksal, als die, welche ihn zufaͤllig entdecken: diesen Augenblick umgiebt eine glaͤnzende geraͤuschvolle Gegenwart, jenen erfuͤllt eine stille aber innige Handlung. Ein hoͤchst verletzbares Geschoͤpf wird von der, die es am zaͤrtlichsten liebt, einem unsichern Element uͤbergeben, um es menschlichen Verfolgungen zu entziehen. Diese Lage der Mutter, ihre hoffende Besorgniß, ihre zweifelnde Vorahndung, und den Muth, zu dem sie geaͤngstigt worden ist, laͤßt Poussin uns in ihrer Stellung und Geberde fuͤhlen. Doch bleibt ihr schoͤnes Profil unentstellt von diesen Regungen. Das Auge ist auf den Saͤugling gerichtet, der zu ihren Fuͤßen in die Kiste gelegt wird, der Mund unmerklich geoͤffnet; sie wagt nicht einmal laut zu seufzen. Die Arme nicht ganz ausgestreckt, nur von den Ellbogen an emporgehoben, und die wenig gekruͤmmten Finger beyder Haͤnde von einander entfernt: sie begleitet damit so natuͤrlich die Bewegungen des Gegenstandes, den sie nun schon nicht mehr erreicht, damit er nirgends anstoßen soll. Vor ihr ist ein Knecht, bis auf ein rothes Tuch um die Huͤften unbekleidet, damit beschaͤftigt, das Kind in der Kiste zu verwahren. Er kniet vortrefflich, er streckt die Haͤnde nach der Kiste wacker aus, die Handlung seines ausgearbeiteten und edlen Koͤrpers ist mehr als akademisch: solche Figuren sieht man auf alten Basreliefs Dienste bey Opfern verrichten. Hinter der Mutter eine weibliche Gestalt, wie die beyden eben geschilderten im Profil

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Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1799/124>, abgerufen am 04.05.2024.