Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.schlechten Tragödien, und Leonardo durfte seinem Beschützer wohl ohne Schmeicheley den ritterlichen edlen Anstand geben, der mit zur Politik des Zeitalters gehörte. Waller. Uebrigens ist man beym Leonardo nicht in Gefahr, einen zu tiefen Sinn in seine Werke zu legen. Er dachte sich gewiß immer noch viel mehr als er auszuführen im Stande war. Diese Ueberlegenheit des Urtheils über das ausübende Vermögen giebt er selbst als Kennzeichen des ächten Künstlers an. Reinhold. Man kann sagen, daß ihn die Liebe zur Kunst in der Wissenschaft zum Entdecker gemacht hat; und daß er die Kunst so liebte, weil er in ihr das tief Erforschte an den Tag legen konnte. Was er nicht alles schon gewußt hat, und bey dem damaligen Zustande der Naturwissenschaften! Waller. Der alte sinnende Einsiedler mit seinem langgewachsenen Haar und Bart! Wenn ich in seiner Schrift lese, kommt er mir vor, wie der Wahrsager Tiresias, der unter den Schatten der Unterwelt allein verständig umherwandelte. Reinhold. Jn der That hat er vieles gleichsam prophezeyt, was erst viel später möglich gemacht worden ist. Er verliert sich so ganz in seinem Gegenstande, und niemand warnt kräftiger vor einem ungültigen Einflusse der Person des Künstlers auf seine Darstellung. Sein großes Streben war, so allgemein und so ursprünglich zu seyn wie die Natur. Bey Tage suchte er sie auf der That zu ertappen, sowohl schlechten Tragoͤdien, und Leonardo durfte seinem Beschuͤtzer wohl ohne Schmeicheley den ritterlichen edlen Anstand geben, der mit zur Politik des Zeitalters gehoͤrte. Waller. Uebrigens ist man beym Leonardo nicht in Gefahr, einen zu tiefen Sinn in seine Werke zu legen. Er dachte sich gewiß immer noch viel mehr als er auszufuͤhren im Stande war. Diese Ueberlegenheit des Urtheils uͤber das ausuͤbende Vermoͤgen giebt er selbst als Kennzeichen des aͤchten Kuͤnstlers an. Reinhold. Man kann sagen, daß ihn die Liebe zur Kunst in der Wissenschaft zum Entdecker gemacht hat; und daß er die Kunst so liebte, weil er in ihr das tief Erforschte an den Tag legen konnte. Was er nicht alles schon gewußt hat, und bey dem damaligen Zustande der Naturwissenschaften! Waller. Der alte sinnende Einsiedler mit seinem langgewachsenen Haar und Bart! Wenn ich in seiner Schrift lese, kommt er mir vor, wie der Wahrsager Tiresias, der unter den Schatten der Unterwelt allein verstaͤndig umherwandelte. Reinhold. Jn der That hat er vieles gleichsam prophezeyt, was erst viel spaͤter moͤglich gemacht worden ist. Er verliert sich so ganz in seinem Gegenstande, und niemand warnt kraͤftiger vor einem unguͤltigen Einflusse der Person des Kuͤnstlers auf seine Darstellung. Sein großes Streben war, so allgemein und so urspruͤnglich zu seyn wie die Natur. Bey Tage suchte er sie auf der That zu ertappen, sowohl <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0111" n="103"/> schlechten Tragoͤdien, und Leonardo durfte seinem Beschuͤtzer wohl ohne Schmeicheley den ritterlichen edlen Anstand geben, der mit zur Politik des Zeitalters gehoͤrte.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Waller</hi>. Uebrigens ist man beym Leonardo nicht in Gefahr, einen zu tiefen Sinn in seine Werke zu legen. Er dachte sich gewiß immer noch viel mehr als er auszufuͤhren im Stande war. Diese Ueberlegenheit des Urtheils uͤber das ausuͤbende Vermoͤgen giebt er selbst als Kennzeichen des aͤchten Kuͤnstlers an.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Reinhold</hi>. Man kann sagen, daß ihn die Liebe zur Kunst in der Wissenschaft zum Entdecker gemacht hat; und daß er die Kunst so liebte, weil er in ihr das tief Erforschte an den Tag legen konnte. Was er nicht alles schon gewußt hat, und bey dem damaligen Zustande der Naturwissenschaften!</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Waller</hi>. Der alte sinnende Einsiedler mit seinem langgewachsenen Haar und Bart! Wenn ich in seiner Schrift lese, kommt er mir vor, wie der Wahrsager Tiresias, der unter den Schatten der Unterwelt allein verstaͤndig umherwandelte.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Reinhold</hi>. Jn der That hat er vieles gleichsam prophezeyt, was erst viel spaͤter moͤglich gemacht worden ist. Er verliert sich so ganz in seinem Gegenstande, und niemand warnt kraͤftiger vor einem unguͤltigen Einflusse der Person des Kuͤnstlers auf seine Darstellung. Sein großes Streben war, so allgemein und so urspruͤnglich zu seyn wie die Natur. Bey Tage suchte er sie auf der That zu ertappen, sowohl </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [103/0111]
schlechten Tragoͤdien, und Leonardo durfte seinem Beschuͤtzer wohl ohne Schmeicheley den ritterlichen edlen Anstand geben, der mit zur Politik des Zeitalters gehoͤrte.
Waller. Uebrigens ist man beym Leonardo nicht in Gefahr, einen zu tiefen Sinn in seine Werke zu legen. Er dachte sich gewiß immer noch viel mehr als er auszufuͤhren im Stande war. Diese Ueberlegenheit des Urtheils uͤber das ausuͤbende Vermoͤgen giebt er selbst als Kennzeichen des aͤchten Kuͤnstlers an.
Reinhold. Man kann sagen, daß ihn die Liebe zur Kunst in der Wissenschaft zum Entdecker gemacht hat; und daß er die Kunst so liebte, weil er in ihr das tief Erforschte an den Tag legen konnte. Was er nicht alles schon gewußt hat, und bey dem damaligen Zustande der Naturwissenschaften!
Waller. Der alte sinnende Einsiedler mit seinem langgewachsenen Haar und Bart! Wenn ich in seiner Schrift lese, kommt er mir vor, wie der Wahrsager Tiresias, der unter den Schatten der Unterwelt allein verstaͤndig umherwandelte.
Reinhold. Jn der That hat er vieles gleichsam prophezeyt, was erst viel spaͤter moͤglich gemacht worden ist. Er verliert sich so ganz in seinem Gegenstande, und niemand warnt kraͤftiger vor einem unguͤltigen Einflusse der Person des Kuͤnstlers auf seine Darstellung. Sein großes Streben war, so allgemein und so urspruͤnglich zu seyn wie die Natur. Bey Tage suchte er sie auf der That zu ertappen, sowohl
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