Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.Lehrjahre sind für den poetischen, akademische Jahre für den philosophischen Jünger. Akademie sollte ein durchaus philosophisches Jnstitut seyn: nur Eine Facultät; die ganze Einrichtung zur Erregung und zweckmäßigen Übung der Denkkraft organisirt. Lehrjahre im vorzüglichen Sinn sind die Lehrjahre der Kunst zu leben. Durch planmäßig geordnete Versuche lernt man ihre Grundsätze kennen und erhält die Fertigkeit nach ihnen beliebig zu verfahren. Ganz begreifen werden wir uns nie, aber wir werden und können uns weit mehr, als begreifen. Gewisse Hemmungen gleichen den Griffen eines Flötenspielers, der um verschiedene Töne hervorzubringen, bald diese bald jene Öffnung zuhält, und willkührliche Verkertungen stummer und tönender Öffnungen zu machen scheint. Der Unterschied zwischen Wahn und Wahrheit liegt in der Differenz ihrer Lebensfunkzionen. Der Wahn lebt von der Wahrheit; die Wahrheit lebt ihr Leben in sich. Man vernichtet den Wahn, wie man Krankheiten vernichtet, und der Wahn ist also nichts, als logische Entzündung oder Verlöschung, Schwärmerey oder Philisterey. Jene hinterläßt gewöhnlich einen scheinbaren Mangel an Denkkraft, Lehrjahre sind fuͤr den poetischen, akademische Jahre fuͤr den philosophischen Juͤnger. Akademie sollte ein durchaus philosophisches Jnstitut seyn: nur Eine Facultaͤt; die ganze Einrichtung zur Erregung und zweckmaͤßigen Übung der Denkkraft organisirt. Lehrjahre im vorzuͤglichen Sinn sind die Lehrjahre der Kunst zu leben. Durch planmaͤßig geordnete Versuche lernt man ihre Grundsaͤtze kennen und erhaͤlt die Fertigkeit nach ihnen beliebig zu verfahren. Ganz begreifen werden wir uns nie, aber wir werden und koͤnnen uns weit mehr, als begreifen. Gewisse Hemmungen gleichen den Griffen eines Floͤtenspielers, der um verschiedene Toͤne hervorzubringen, bald diese bald jene Öffnung zuhaͤlt, und willkuͤhrliche Verkertungen stummer und toͤnender Öffnungen zu machen scheint. Der Unterschied zwischen Wahn und Wahrheit liegt in der Differenz ihrer Lebensfunkzionen. Der Wahn lebt von der Wahrheit; die Wahrheit lebt ihr Leben in sich. Man vernichtet den Wahn, wie man Krankheiten vernichtet, und der Wahn ist also nichts, als logische Entzuͤndung oder Verloͤschung, Schwaͤrmerey oder Philisterey. Jene hinterlaͤßt gewoͤhnlich einen scheinbaren Mangel an Denkkraft, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0082" n="71"/> <p>Lehrjahre sind fuͤr den poetischen, akademische Jahre fuͤr den philosophischen Juͤnger. Akademie sollte ein durchaus philosophisches Jnstitut seyn: nur Eine Facultaͤt; die ganze Einrichtung zur Erregung und zweckmaͤßigen Übung der Denkkraft organisirt.</p> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Lehrjahre im vorzuͤglichen Sinn sind die Lehrjahre der Kunst zu leben. Durch planmaͤßig geordnete Versuche lernt man ihre Grundsaͤtze kennen und erhaͤlt die Fertigkeit nach ihnen beliebig zu verfahren.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Ganz begreifen werden wir uns nie, aber wir werden und koͤnnen uns weit mehr, als begreifen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Gewisse Hemmungen gleichen den Griffen eines Floͤtenspielers, der um verschiedene Toͤne hervorzubringen, bald diese bald jene Öffnung zuhaͤlt, und willkuͤhrliche Verkertungen stummer und toͤnender Öffnungen zu machen scheint.<lb/></p> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Der Unterschied zwischen Wahn und Wahrheit liegt in der Differenz ihrer Lebensfunkzionen. Der Wahn lebt von der Wahrheit; die Wahrheit lebt ihr Leben in sich. Man vernichtet den Wahn, wie man Krankheiten vernichtet, und der Wahn ist also nichts, als logische Entzuͤndung oder Verloͤschung, Schwaͤrmerey oder Philisterey. Jene hinterlaͤßt gewoͤhnlich einen scheinbaren Mangel an Denkkraft,<lb/> der durch nichts zu heben ist, als eine abnehmende Reihe von Jnzitamenten, Zwangsmitteln. Diese geht oft in eine<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [71/0082]
Lehrjahre sind fuͤr den poetischen, akademische Jahre fuͤr den philosophischen Juͤnger. Akademie sollte ein durchaus philosophisches Jnstitut seyn: nur Eine Facultaͤt; die ganze Einrichtung zur Erregung und zweckmaͤßigen Übung der Denkkraft organisirt.
Lehrjahre im vorzuͤglichen Sinn sind die Lehrjahre der Kunst zu leben. Durch planmaͤßig geordnete Versuche lernt man ihre Grundsaͤtze kennen und erhaͤlt die Fertigkeit nach ihnen beliebig zu verfahren.
Ganz begreifen werden wir uns nie, aber wir werden und koͤnnen uns weit mehr, als begreifen.
Gewisse Hemmungen gleichen den Griffen eines Floͤtenspielers, der um verschiedene Toͤne hervorzubringen, bald diese bald jene Öffnung zuhaͤlt, und willkuͤhrliche Verkertungen stummer und toͤnender Öffnungen zu machen scheint.
Der Unterschied zwischen Wahn und Wahrheit liegt in der Differenz ihrer Lebensfunkzionen. Der Wahn lebt von der Wahrheit; die Wahrheit lebt ihr Leben in sich. Man vernichtet den Wahn, wie man Krankheiten vernichtet, und der Wahn ist also nichts, als logische Entzuͤndung oder Verloͤschung, Schwaͤrmerey oder Philisterey. Jene hinterlaͤßt gewoͤhnlich einen scheinbaren Mangel an Denkkraft,
der durch nichts zu heben ist, als eine abnehmende Reihe von Jnzitamenten, Zwangsmitteln. Diese geht oft in eine
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