Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite

und das Entlegenste zu verbinden. Wir müssen uns über unsre eigne Liebe erheben, und was wir anbeten, in Gedanken vernichten können: sonst fehlt uns, was wir auch für andre Fähigkeiten haben, der Sinn für das Weltall. Warum sollte man nicht den Duft einer Blume einathmen, und dann doch das unendliche Geäder eines einzelnen Blatts betrachten und sich ganz in diese Betrachtung verlieren können? Nicht bloß die glänzende äußre Hülle, das bunte Kleid der schönen Erde, ist dem Menschen, der ganz Mensch ist, und so fühlt und denkt, interessant: er mag auch gern untersuchen, wie die Schichten im Jnnern auf einander liegen, und aus welchen Erdarten sie zusammengesetzt sind; er möchte immer tiefer dringen, bis in den Mittelpunkt wo möglich, und möchte wissen, wie das Ganze konstruirt ist. So mögen wir uns gern dem Zauber des Dichters entreißen, nachdem wir uns gutwillig haben von ihm fesseln lassen, mögen am liebsten dem nachspähn, was er unserm Blick entziehen oder doch nicht zuerst zeigen wollte, und was ihn doch am meisten zum Künstler macht: die geheimen Absichten, die er im Stillen verfolgt, und deren wir beym Genius, dessen Jnstinkt zur Willkühr geworden ist, nie zu viele voraussetzen können.

Der angebohrne Trieb des durchaus organisirten und organisirenden Werks, sich zu einem Ganzen zu bilden, äußert sich in den größeren wie in den kleineren Massen. Keine Pause ist zufällig und unbedeutend; und hier, wo alles zugleich Mittel und Zweck ist, wird es nicht unrichtig seyn, den ersten Theil unbeschadet

und das Entlegenste zu verbinden. Wir muͤssen uns uͤber unsre eigne Liebe erheben, und was wir anbeten, in Gedanken vernichten koͤnnen: sonst fehlt uns, was wir auch fuͤr andre Faͤhigkeiten haben, der Sinn fuͤr das Weltall. Warum sollte man nicht den Duft einer Blume einathmen, und dann doch das unendliche Geaͤder eines einzelnen Blatts betrachten und sich ganz in diese Betrachtung verlieren koͤnnen? Nicht bloß die glaͤnzende aͤußre Huͤlle, das bunte Kleid der schoͤnen Erde, ist dem Menschen, der ganz Mensch ist, und so fuͤhlt und denkt, interessant: er mag auch gern untersuchen, wie die Schichten im Jnnern auf einander liegen, und aus welchen Erdarten sie zusammengesetzt sind; er moͤchte immer tiefer dringen, bis in den Mittelpunkt wo moͤglich, und moͤchte wissen, wie das Ganze konstruirt ist. So moͤgen wir uns gern dem Zauber des Dichters entreißen, nachdem wir uns gutwillig haben von ihm fesseln lassen, moͤgen am liebsten dem nachspaͤhn, was er unserm Blick entziehen oder doch nicht zuerst zeigen wollte, und was ihn doch am meisten zum Kuͤnstler macht: die geheimen Absichten, die er im Stillen verfolgt, und deren wir beym Genius, dessen Jnstinkt zur Willkuͤhr geworden ist, nie zu viele voraussetzen koͤnnen.

Der angebohrne Trieb des durchaus organisirten und organisirenden Werks, sich zu einem Ganzen zu bilden, aͤußert sich in den groͤßeren wie in den kleineren Massen. Keine Pause ist zufaͤllig und unbedeutend; und hier, wo alles zugleich Mittel und Zweck ist, wird es nicht unrichtig seyn, den ersten Theil unbeschadet

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0344" n="155"/>
und das Entlegenste zu verbinden. Wir mu&#x0364;ssen uns u&#x0364;ber unsre eigne Liebe erheben, und was wir anbeten, in Gedanken vernichten ko&#x0364;nnen: sonst fehlt uns, was wir auch fu&#x0364;r andre Fa&#x0364;higkeiten haben, der Sinn fu&#x0364;r das Weltall. Warum sollte man nicht den Duft einer Blume einathmen, und dann doch das unendliche Gea&#x0364;der eines einzelnen Blatts betrachten und sich ganz in diese Betrachtung verlieren ko&#x0364;nnen? Nicht bloß die gla&#x0364;nzende a&#x0364;ußre Hu&#x0364;lle, das bunte Kleid der scho&#x0364;nen Erde, ist dem Menschen, der ganz Mensch ist, und so fu&#x0364;hlt und denkt, interessant: er mag auch gern untersuchen, wie die Schichten im Jnnern auf einander liegen, und aus welchen Erdarten sie zusammengesetzt sind; er mo&#x0364;chte immer tiefer dringen, bis in den Mittelpunkt wo mo&#x0364;glich, und mo&#x0364;chte wissen, wie das Ganze konstruirt ist. So mo&#x0364;gen wir uns gern dem Zauber des Dichters entreißen, nachdem wir uns gutwillig haben von ihm fesseln lassen, mo&#x0364;gen am liebsten dem nachspa&#x0364;hn, was er unserm Blick entziehen oder doch nicht zuerst zeigen wollte, und was ihn doch am meisten zum Ku&#x0364;nstler macht: die geheimen Absichten, die er im Stillen verfolgt, und deren wir beym Genius, dessen Jnstinkt zur Willku&#x0364;hr geworden ist, nie zu viele voraussetzen ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
          <p>Der angebohrne Trieb des durchaus organisirten und organisirenden Werks, sich zu einem Ganzen zu bilden, a&#x0364;ußert sich in den gro&#x0364;ßeren wie in den kleineren Massen. Keine Pause ist zufa&#x0364;llig und unbedeutend; und hier, wo alles zugleich Mittel und Zweck ist, wird es nicht unrichtig seyn, den ersten Theil unbeschadet<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[155/0344] und das Entlegenste zu verbinden. Wir muͤssen uns uͤber unsre eigne Liebe erheben, und was wir anbeten, in Gedanken vernichten koͤnnen: sonst fehlt uns, was wir auch fuͤr andre Faͤhigkeiten haben, der Sinn fuͤr das Weltall. Warum sollte man nicht den Duft einer Blume einathmen, und dann doch das unendliche Geaͤder eines einzelnen Blatts betrachten und sich ganz in diese Betrachtung verlieren koͤnnen? Nicht bloß die glaͤnzende aͤußre Huͤlle, das bunte Kleid der schoͤnen Erde, ist dem Menschen, der ganz Mensch ist, und so fuͤhlt und denkt, interessant: er mag auch gern untersuchen, wie die Schichten im Jnnern auf einander liegen, und aus welchen Erdarten sie zusammengesetzt sind; er moͤchte immer tiefer dringen, bis in den Mittelpunkt wo moͤglich, und moͤchte wissen, wie das Ganze konstruirt ist. So moͤgen wir uns gern dem Zauber des Dichters entreißen, nachdem wir uns gutwillig haben von ihm fesseln lassen, moͤgen am liebsten dem nachspaͤhn, was er unserm Blick entziehen oder doch nicht zuerst zeigen wollte, und was ihn doch am meisten zum Kuͤnstler macht: die geheimen Absichten, die er im Stillen verfolgt, und deren wir beym Genius, dessen Jnstinkt zur Willkuͤhr geworden ist, nie zu viele voraussetzen koͤnnen. Der angebohrne Trieb des durchaus organisirten und organisirenden Werks, sich zu einem Ganzen zu bilden, aͤußert sich in den groͤßeren wie in den kleineren Massen. Keine Pause ist zufaͤllig und unbedeutend; und hier, wo alles zugleich Mittel und Zweck ist, wird es nicht unrichtig seyn, den ersten Theil unbeschadet

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/344
Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/344>, abgerufen am 23.07.2024.