Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.Um den Unterschied der Pflichten gegen sich selbst und der Pflichten gegen andre zu bestimmen, dürften sich schwerlich andre Kennzeichen finden, als die welche jener einfältige Mensch für den der Tragödie und der Komödie angab. Lachst du dabey und bekommst du am Ende etwas, so nimms für eine Pflicht gegen dich selbst; ist dir das Weinen näher und bekommts ein andrer, so nimms für eine Pflicht gegen den Nächsten. Daß die ganze Eintheilung am Ende darauf hinausläuft, und daß es auch ein ganz unmoralischer Unterschied ist, leuchtet ein. Es entsteht daraus die Ansicht als ob es zwey ganz verschiedne im Streit liegende Stimmungen gäbe, die entweder sorgfältig auseinander gehalten oder durch eine kleinliche Arithmetik künstlich verglichen werden müßten. Es entstehn daraus die Fantome von Hingebung, Aufopferung, Großmuth und was alles für moralisches Unheil. Überhaupt ist die gesammte Moral aller Systeme eher jedes andre, nur nicht moralisch. Jn den Werken der größten Dichter athmet nicht selten der Geist einer andern Kunst. Sollte dieß nicht auch bey Mahlern der Fall seyn; mahlt nicht Michelangelo in gewissem Sinn wie ein Bildhauer, Rafael wie ein Architekt, Correggio wie ein Musiker? Und gewiß würden sie darum nicht weniger Mahler seyn als Tizian, weil dieser bloß Mahler war. Die Philosophie war bey den Alten in ecclesia pressa, die Kunst bey den Neuern; die Sittlichkeit Um den Unterschied der Pflichten gegen sich selbst und der Pflichten gegen andre zu bestimmen, duͤrften sich schwerlich andre Kennzeichen finden, als die welche jener einfaͤltige Mensch fuͤr den der Tragoͤdie und der Komoͤdie angab. Lachst du dabey und bekommst du am Ende etwas, so nimms fuͤr eine Pflicht gegen dich selbst; ist dir das Weinen naͤher und bekommts ein andrer, so nimms fuͤr eine Pflicht gegen den Naͤchsten. Daß die ganze Eintheilung am Ende darauf hinauslaͤuft, und daß es auch ein ganz unmoralischer Unterschied ist, leuchtet ein. Es entsteht daraus die Ansicht als ob es zwey ganz verschiedne im Streit liegende Stimmungen gaͤbe, die entweder sorgfaͤltig auseinander gehalten oder durch eine kleinliche Arithmetik kuͤnstlich verglichen werden muͤßten. Es entstehn daraus die Fantome von Hingebung, Aufopferung, Großmuth und was alles fuͤr moralisches Unheil. Überhaupt ist die gesammte Moral aller Systeme eher jedes andre, nur nicht moralisch. Jn den Werken der groͤßten Dichter athmet nicht selten der Geist einer andern Kunst. Sollte dieß nicht auch bey Mahlern der Fall seyn; mahlt nicht Michelangelo in gewissem Sinn wie ein Bildhauer, Rafael wie ein Architekt, Correggio wie ein Musiker? Und gewiß wuͤrden sie darum nicht weniger Mahler seyn als Tizian, weil dieser bloß Mahler war. Die Philosophie war bey den Alten in ecclesia pressa, die Kunst bey den Neuern; die Sittlichkeit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0302" n="113"/> <p>Um den Unterschied der Pflichten gegen sich selbst und der Pflichten gegen andre zu bestimmen, duͤrften sich schwerlich andre Kennzeichen finden, als die welche jener einfaͤltige Mensch fuͤr den der Tragoͤdie und der Komoͤdie angab. Lachst du dabey und bekommst du am Ende etwas, so nimms fuͤr eine Pflicht gegen dich selbst; ist dir das Weinen naͤher und bekommts ein andrer, so nimms fuͤr eine Pflicht gegen den Naͤchsten. Daß die ganze Eintheilung am Ende darauf hinauslaͤuft, und daß es auch ein ganz unmoralischer Unterschied ist, leuchtet ein. Es entsteht daraus die Ansicht als ob es zwey ganz verschiedne im Streit liegende Stimmungen gaͤbe, die entweder sorgfaͤltig auseinander gehalten oder durch eine kleinliche Arithmetik kuͤnstlich verglichen werden muͤßten. Es entstehn daraus die Fantome von Hingebung, Aufopferung, Großmuth und was alles fuͤr moralisches Unheil. Überhaupt ist die gesammte Moral aller Systeme eher jedes andre, nur nicht moralisch.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Jn den Werken der groͤßten Dichter athmet nicht selten der Geist einer andern Kunst. Sollte dieß nicht auch bey Mahlern der Fall seyn; mahlt nicht Michelangelo in gewissem Sinn wie ein Bildhauer, Rafael wie ein Architekt, Correggio wie ein Musiker? Und gewiß wuͤrden sie darum nicht weniger Mahler seyn als Tizian, weil dieser bloß Mahler war.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Die Philosophie war bey den Alten in <foreign xml:lang="la">ecclesia pressa</foreign>, die Kunst bey den Neuern; die Sittlichkeit<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [113/0302]
Um den Unterschied der Pflichten gegen sich selbst und der Pflichten gegen andre zu bestimmen, duͤrften sich schwerlich andre Kennzeichen finden, als die welche jener einfaͤltige Mensch fuͤr den der Tragoͤdie und der Komoͤdie angab. Lachst du dabey und bekommst du am Ende etwas, so nimms fuͤr eine Pflicht gegen dich selbst; ist dir das Weinen naͤher und bekommts ein andrer, so nimms fuͤr eine Pflicht gegen den Naͤchsten. Daß die ganze Eintheilung am Ende darauf hinauslaͤuft, und daß es auch ein ganz unmoralischer Unterschied ist, leuchtet ein. Es entsteht daraus die Ansicht als ob es zwey ganz verschiedne im Streit liegende Stimmungen gaͤbe, die entweder sorgfaͤltig auseinander gehalten oder durch eine kleinliche Arithmetik kuͤnstlich verglichen werden muͤßten. Es entstehn daraus die Fantome von Hingebung, Aufopferung, Großmuth und was alles fuͤr moralisches Unheil. Überhaupt ist die gesammte Moral aller Systeme eher jedes andre, nur nicht moralisch.
Jn den Werken der groͤßten Dichter athmet nicht selten der Geist einer andern Kunst. Sollte dieß nicht auch bey Mahlern der Fall seyn; mahlt nicht Michelangelo in gewissem Sinn wie ein Bildhauer, Rafael wie ein Architekt, Correggio wie ein Musiker? Und gewiß wuͤrden sie darum nicht weniger Mahler seyn als Tizian, weil dieser bloß Mahler war.
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Zitationshilfe: | Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/302>, abgerufen am 25.06.2024. |