Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789.

Bild:
<< vorherige Seite

ren alle, die dem Menschengeschlechte selbst und der
Erfindung der Zeichen vorhergegangen sind. Die Quelle
aller Geschichte ist Tradition, und das Organ der Tra-
dition ist die Sprache. Die ganze Epoche vor der Spra-
che
, so folgenreich sie auch für die Welt gewesen, ist
für die Weltgeschichte verloren. II. Nachdem aber auch
Sprache erfunden, und durch sie die Möglichkeit vor-
handen war, geschehene Dinge auszudrücken und wei-
ter mitzutheilen, so geschah diese Mittheilung anfangs
durch den unsichern und wandelbaren Weg der Sagen.
Von Munde zu Munde pflanzte sich eine solche Bege-
benheit durch eine lange Folge von Geschlechtern fort,
und da sie durch Media gieng, die verändert werden
und verändern, so mußte sie diese Veränderungen mit
erleiden. Die lebendige Tradition oder die mündliche
Sage ist daher eine sehr unzuverläßige Quelle für die
Geschichte, daher sind alle Begebenheiten vor dem Ge-
brauche der Schrift
für die Weltgeschichte so gut als
verloren. III. Die Schrift ist aber selbst nicht unver-
gänglich; unzählich viele Denkmäler des Alterthums
haben Zeit und Zufälle zerstört, und nur we-
nige Trümmer haben sich aus der Vorwelt in die Zei-
ten der Buchdruckerkunst gerettet. Bey weitem der
größre Theil ist mit den Aufschlüssen, die er uns ge-
ben sollte, für die Weltgeschichte verloren. IV. Unter
den wenigen endlich, welche die Zeit verschonte, ist die
größere Anzahl durch die Leidenschaft, durch den Unver-
stand
, und oft selbst durch das Genie ihrer Beschreiber

verun-
B 4

ren alle, die dem Menſchengeſchlechte ſelbſt und der
Erfindung der Zeichen vorhergegangen ſind. Die Quelle
aller Geſchichte iſt Tradition, und das Organ der Tra-
dition iſt die Sprache. Die ganze Epoche vor der Spra-
che
, ſo folgenreich ſie auch fuͤr die Welt geweſen, iſt
fuͤr die Weltgeſchichte verloren. II. Nachdem aber auch
Sprache erfunden, und durch ſie die Moͤglichkeit vor-
handen war, geſchehene Dinge auszudruͤcken und wei-
ter mitzutheilen, ſo geſchah dieſe Mittheilung anfangs
durch den unſichern und wandelbaren Weg der Sagen.
Von Munde zu Munde pflanzte ſich eine ſolche Bege-
benheit durch eine lange Folge von Geſchlechtern fort,
und da ſie durch Media gieng, die veraͤndert werden
und veraͤndern, ſo mußte ſie dieſe Veraͤnderungen mit
erleiden. Die lebendige Tradition oder die muͤndliche
Sage iſt daher eine ſehr unzuverlaͤßige Quelle fuͤr die
Geſchichte, daher ſind alle Begebenheiten vor dem Ge-
brauche der Schrift
fuͤr die Weltgeſchichte ſo gut als
verloren. III. Die Schrift iſt aber ſelbſt nicht unver-
gaͤnglich; unzaͤhlich viele Denkmaͤler des Alterthums
haben Zeit und Zufaͤlle zerſtoͤrt, und nur we-
nige Truͤmmer haben ſich aus der Vorwelt in die Zei-
ten der Buchdruckerkunſt gerettet. Bey weitem der
groͤßre Theil iſt mit den Aufſchluͤſſen, die er uns ge-
ben ſollte, fuͤr die Weltgeſchichte verloren. IV. Unter
den wenigen endlich, welche die Zeit verſchonte, iſt die
groͤßere Anzahl durch die Leidenſchaft, durch den Unver-
ſtand
, und oft ſelbſt durch das Genie ihrer Beſchreiber

verun-
B 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0025" n="23"/>
ren alle, die dem Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechte &#x017F;elb&#x017F;t und der<lb/>
Erfindung der Zeichen vorhergegangen &#x017F;ind. Die Quelle<lb/>
aller Ge&#x017F;chichte i&#x017F;t Tradition, und das Organ der Tra-<lb/>
dition i&#x017F;t die Sprache. Die ganze Epoche vor der <hi rendition="#fr">Spra-<lb/>
che</hi>, &#x017F;o folgenreich &#x017F;ie auch fu&#x0364;r die <hi rendition="#fr">Welt</hi> gewe&#x017F;en, i&#x017F;t<lb/>
fu&#x0364;r die <hi rendition="#fr">Weltge&#x017F;chichte</hi> verloren. <hi rendition="#aq">II.</hi> Nachdem aber auch<lb/>
Sprache erfunden, und durch &#x017F;ie die Mo&#x0364;glichkeit vor-<lb/>
handen war, ge&#x017F;chehene Dinge auszudru&#x0364;cken und wei-<lb/>
ter mitzutheilen, &#x017F;o ge&#x017F;chah die&#x017F;e Mittheilung anfangs<lb/>
durch den un&#x017F;ichern und wandelbaren Weg der <hi rendition="#fr">Sagen</hi>.<lb/>
Von Munde zu Munde pflanzte &#x017F;ich eine &#x017F;olche Bege-<lb/>
benheit durch eine lange Folge von Ge&#x017F;chlechtern fort,<lb/>
und da &#x017F;ie durch Media gieng, die vera&#x0364;ndert werden<lb/>
und vera&#x0364;ndern, &#x017F;o mußte &#x017F;ie die&#x017F;e Vera&#x0364;nderungen mit<lb/>
erleiden. Die lebendige Tradition oder die mu&#x0364;ndliche<lb/>
Sage i&#x017F;t daher eine &#x017F;ehr unzuverla&#x0364;ßige Quelle fu&#x0364;r die<lb/>
Ge&#x017F;chichte, daher &#x017F;ind alle Begebenheiten <hi rendition="#fr">vor dem Ge-<lb/>
brauche der Schrift</hi> fu&#x0364;r die Weltge&#x017F;chichte &#x017F;o gut als<lb/>
verloren. <hi rendition="#aq">III.</hi> Die Schrift i&#x017F;t aber &#x017F;elb&#x017F;t nicht unver-<lb/>
ga&#x0364;nglich; unza&#x0364;hlich viele Denkma&#x0364;ler des Alterthums<lb/>
haben Zeit und Zufa&#x0364;lle zer&#x017F;to&#x0364;rt, und nur we-<lb/>
nige Tru&#x0364;mmer haben &#x017F;ich aus der Vorwelt in die Zei-<lb/>
ten der Buchdruckerkun&#x017F;t gerettet. Bey weitem der<lb/>
gro&#x0364;ßre Theil i&#x017F;t mit den Auf&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, die er uns ge-<lb/>
ben &#x017F;ollte, fu&#x0364;r die Weltge&#x017F;chichte verloren. <hi rendition="#aq">IV.</hi> Unter<lb/>
den wenigen endlich, welche die Zeit ver&#x017F;chonte, i&#x017F;t die<lb/>
gro&#x0364;ßere Anzahl durch die <hi rendition="#fr">Leiden&#x017F;chaft</hi>, durch den <hi rendition="#fr">Unver-<lb/>
&#x017F;tand</hi>, und oft &#x017F;elb&#x017F;t durch das <hi rendition="#fr">Genie</hi> ihrer Be&#x017F;chreiber<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B 4</fw><fw place="bottom" type="catch">verun-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[23/0025] ren alle, die dem Menſchengeſchlechte ſelbſt und der Erfindung der Zeichen vorhergegangen ſind. Die Quelle aller Geſchichte iſt Tradition, und das Organ der Tra- dition iſt die Sprache. Die ganze Epoche vor der Spra- che, ſo folgenreich ſie auch fuͤr die Welt geweſen, iſt fuͤr die Weltgeſchichte verloren. II. Nachdem aber auch Sprache erfunden, und durch ſie die Moͤglichkeit vor- handen war, geſchehene Dinge auszudruͤcken und wei- ter mitzutheilen, ſo geſchah dieſe Mittheilung anfangs durch den unſichern und wandelbaren Weg der Sagen. Von Munde zu Munde pflanzte ſich eine ſolche Bege- benheit durch eine lange Folge von Geſchlechtern fort, und da ſie durch Media gieng, die veraͤndert werden und veraͤndern, ſo mußte ſie dieſe Veraͤnderungen mit erleiden. Die lebendige Tradition oder die muͤndliche Sage iſt daher eine ſehr unzuverlaͤßige Quelle fuͤr die Geſchichte, daher ſind alle Begebenheiten vor dem Ge- brauche der Schrift fuͤr die Weltgeſchichte ſo gut als verloren. III. Die Schrift iſt aber ſelbſt nicht unver- gaͤnglich; unzaͤhlich viele Denkmaͤler des Alterthums haben Zeit und Zufaͤlle zerſtoͤrt, und nur we- nige Truͤmmer haben ſich aus der Vorwelt in die Zei- ten der Buchdruckerkunſt gerettet. Bey weitem der groͤßre Theil iſt mit den Aufſchluͤſſen, die er uns ge- ben ſollte, fuͤr die Weltgeſchichte verloren. IV. Unter den wenigen endlich, welche die Zeit verſchonte, iſt die groͤßere Anzahl durch die Leidenſchaft, durch den Unver- ſtand, und oft ſelbſt durch das Genie ihrer Beſchreiber verun- B 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789/25
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789/25>, abgerufen am 22.11.2024.