Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789.

Bild:
<< vorherige Seite

delnden Einfluß der bessern Philosophie verkennen?
Unsre Leibnitze und Locke machten sich um das
Dogma und um die Moral des Christenthums eben
so verdient, als -- der Pinsel eines Raphael und Cor-
reggio um die heilige Geschichte.

Endlich unsre Staaten -- mit welcher Innigkeit,
mit welcher Kunst sind sie einander verschlungen! wie
viel dauerhafter durch den wohlthätigen Zwang der
Noth als vormals durch die feyerlichsten Verträge ver-
brüdert! Den Frieden hütet jezt ein ewig geharnisch-
ter Krieg, und die Selbstliebe eines Staats sezt ihn
zum Wächter über den Wohlstand des andern. Die
europäische Staatengesellschaft scheint in eine große
Familie verwandelt. Die Hausgenossen können ein-
ander anfeinden, aber nicht mehr zerfleischen.

Welche entgegengesezte Gemählde! Wer sollte in
dem verfeinerten Europäer des achtzehnten Jahrhun-
derts nur einen fortgeschrittnen Bruder des neuern
Kanadiers, des alten Celten vermuthen? Alle diese
Fertigkeiten, Kunsttriebe, Erfahrungen, alle diese
Schöpfungen der Vernunft sind im Raume von weni-
gen Jahrtausenden in dem Menschen angepflanzt und
entwickelt worden; alle diese Wunder der Kunst, diese
Riesenwerke des Fleisses sind aus ihm heraus gerufen
worden. Was weckte jene zum Leben, was lockte die-
se heraus? Welche Zustände durchwanderte der Mensch,
bis er von jenem Aeussersten zu diesem Aeussersten, vom
ungeselligen Höhlenbewohner -- zum geistreichen Den-

ker,
B

delnden Einfluß der beſſern Philoſophie verkennen?
Unſre Leibnitze und Locke machten ſich um das
Dogma und um die Moral des Chriſtenthums eben
ſo verdient, als — der Pinſel eines Raphael und Cor-
reggio um die heilige Geſchichte.

Endlich unſre Staaten — mit welcher Innigkeit,
mit welcher Kunſt ſind ſie einander verſchlungen! wie
viel dauerhafter durch den wohlthaͤtigen Zwang der
Noth als vormals durch die feyerlichſten Vertraͤge ver-
bruͤdert! Den Frieden huͤtet jezt ein ewig geharniſch-
ter Krieg, und die Selbſtliebe eines Staats ſezt ihn
zum Waͤchter uͤber den Wohlſtand des andern. Die
europaͤiſche Staatengeſellſchaft ſcheint in eine große
Familie verwandelt. Die Hausgenoſſen koͤnnen ein-
ander anfeinden, aber nicht mehr zerfleiſchen.

Welche entgegengeſezte Gemaͤhlde! Wer ſollte in
dem verfeinerten Europaͤer des achtzehnten Jahrhun-
derts nur einen fortgeſchrittnen Bruder des neuern
Kanadiers, des alten Celten vermuthen? Alle dieſe
Fertigkeiten, Kunſttriebe, Erfahrungen, alle dieſe
Schoͤpfungen der Vernunft ſind im Raume von weni-
gen Jahrtauſenden in dem Menſchen angepflanzt und
entwickelt worden; alle dieſe Wunder der Kunſt, dieſe
Rieſenwerke des Fleiſſes ſind aus ihm heraus gerufen
worden. Was weckte jene zum Leben, was lockte die-
ſe heraus? Welche Zuſtaͤnde durchwanderte der Menſch,
bis er von jenem Aeuſſerſten zu dieſem Aeuſſerſten, vom
ungeſelligen Hoͤhlenbewohner — zum geiſtreichen Den-

ker,
B
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0019" n="17"/>
delnden Einfluß der be&#x017F;&#x017F;ern Philo&#x017F;ophie verkennen?<lb/>
Un&#x017F;re Leibnitze und Locke machten &#x017F;ich um das<lb/><hi rendition="#fr">Dogma</hi> und um die <hi rendition="#fr">Moral</hi> des Chri&#x017F;tenthums eben<lb/>
&#x017F;o verdient, als &#x2014; der Pin&#x017F;el eines Raphael und Cor-<lb/>
reggio um die heilige Ge&#x017F;chichte.</p><lb/>
        <p>Endlich un&#x017F;re Staaten &#x2014; mit welcher Innigkeit,<lb/>
mit welcher Kun&#x017F;t &#x017F;ind &#x017F;ie einander ver&#x017F;chlungen! wie<lb/>
viel dauerhafter durch den wohltha&#x0364;tigen Zwang der<lb/>
Noth als vormals durch die feyerlich&#x017F;ten Vertra&#x0364;ge ver-<lb/>
bru&#x0364;dert! Den Frieden hu&#x0364;tet jezt ein ewig geharni&#x017F;ch-<lb/>
ter Krieg, und die Selb&#x017F;tliebe eines Staats &#x017F;ezt ihn<lb/>
zum Wa&#x0364;chter u&#x0364;ber den Wohl&#x017F;tand des andern. Die<lb/>
europa&#x0364;i&#x017F;che Staatenge&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x017F;cheint in eine große<lb/>
Familie verwandelt. Die Hausgeno&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nnen ein-<lb/>
ander anfeinden, aber nicht mehr zerflei&#x017F;chen.</p><lb/>
        <p>Welche entgegenge&#x017F;ezte Gema&#x0364;hlde! Wer &#x017F;ollte in<lb/>
dem verfeinerten Europa&#x0364;er des achtzehnten Jahrhun-<lb/>
derts nur einen fortge&#x017F;chrittnen Bruder des neuern<lb/>
Kanadiers, des alten Celten vermuthen? Alle die&#x017F;e<lb/>
Fertigkeiten, Kun&#x017F;ttriebe, Erfahrungen, alle die&#x017F;e<lb/>
Scho&#x0364;pfungen der Vernunft &#x017F;ind im Raume von weni-<lb/>
gen Jahrtau&#x017F;enden in dem Men&#x017F;chen angepflanzt und<lb/>
entwickelt worden; alle die&#x017F;e Wunder der Kun&#x017F;t, die&#x017F;e<lb/>
Rie&#x017F;enwerke des Flei&#x017F;&#x017F;es &#x017F;ind aus ihm heraus gerufen<lb/>
worden. Was weckte jene zum Leben, was lockte die-<lb/>
&#x017F;e heraus? Welche Zu&#x017F;ta&#x0364;nde durchwanderte der Men&#x017F;ch,<lb/>
bis er von jenem Aeu&#x017F;&#x017F;er&#x017F;ten zu die&#x017F;em Aeu&#x017F;&#x017F;er&#x017F;ten, vom<lb/>
unge&#x017F;elligen Ho&#x0364;hlenbewohner &#x2014; zum gei&#x017F;treichen Den-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B</fw><fw place="bottom" type="catch">ker,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0019] delnden Einfluß der beſſern Philoſophie verkennen? Unſre Leibnitze und Locke machten ſich um das Dogma und um die Moral des Chriſtenthums eben ſo verdient, als — der Pinſel eines Raphael und Cor- reggio um die heilige Geſchichte. Endlich unſre Staaten — mit welcher Innigkeit, mit welcher Kunſt ſind ſie einander verſchlungen! wie viel dauerhafter durch den wohlthaͤtigen Zwang der Noth als vormals durch die feyerlichſten Vertraͤge ver- bruͤdert! Den Frieden huͤtet jezt ein ewig geharniſch- ter Krieg, und die Selbſtliebe eines Staats ſezt ihn zum Waͤchter uͤber den Wohlſtand des andern. Die europaͤiſche Staatengeſellſchaft ſcheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenoſſen koͤnnen ein- ander anfeinden, aber nicht mehr zerfleiſchen. Welche entgegengeſezte Gemaͤhlde! Wer ſollte in dem verfeinerten Europaͤer des achtzehnten Jahrhun- derts nur einen fortgeſchrittnen Bruder des neuern Kanadiers, des alten Celten vermuthen? Alle dieſe Fertigkeiten, Kunſttriebe, Erfahrungen, alle dieſe Schoͤpfungen der Vernunft ſind im Raume von weni- gen Jahrtauſenden in dem Menſchen angepflanzt und entwickelt worden; alle dieſe Wunder der Kunſt, dieſe Rieſenwerke des Fleiſſes ſind aus ihm heraus gerufen worden. Was weckte jene zum Leben, was lockte die- ſe heraus? Welche Zuſtaͤnde durchwanderte der Menſch, bis er von jenem Aeuſſerſten zu dieſem Aeuſſerſten, vom ungeſelligen Hoͤhlenbewohner — zum geiſtreichen Den- ker, B

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789/19
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789/19>, abgerufen am 25.11.2024.