Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789.

Bild:
<< vorherige Seite

die barbarischen Verbrechen allmählig in die Vergessen-
heit nach. Ein großer Schritt zur Veredlung ist ge-
schehen, daß die Gesetze tugendhaft sind, wenn auch
gleich noch nicht die Menschen. Wo die Zwangspflich-
ten von dem Menschen ablassen, übernehmen ihn die
Sitten. Den keine Strafe schreckt und kein Gewissen
zügelt, halten jetzt die Gesetze des Anstands und
der Ehre in Schranken.

Wahr ist es, auch in unser Zeitalter haben sich
noch manche barbarische Ueberreste aus den vorigen ein-
gedrungen, Geburten des Zufalls und der Gewalt, die
das Zeitalter der Vernunft nicht hätte verewigen sol-
len. Aber wieviel Gestalt hat der Verstand des Men-
schen auch diesem barbarischen Nachlaß der ältern und
mittlern Jahrhunderte anerschaffen! Wie unschädlich,
ja wie nützlich hat er oft gemacht, was er umzustür-
tzen noch nicht wagen konnte! Auf dem rohen Grunde
der Lehen-Anarchie führte Teutschland das System sei-
ner politischen und kirchlichen Freyheit auf. Das
Schattenbild des römischen Imperators, das sich dies-
seits der Apenninen erhalten, leistet der Welt jezt un-
endlich mehr Gutes, als sein schreckhaftes Urbild im
alten Rom -- denn es hält ein nützliches Staatssystem
durch Eintracht zusammen: jenes drückte die thätig-
sten Kräfte der Menschheit in einer sclavischen Ein-
förmigkeit
darnieder. Selbst unsre Religion -- so sehr
entstellt durch die untreuen Hände, durch welche sie
uns überliefert worden -- wer kann in ihr den vere-

deln-

die barbariſchen Verbrechen allmaͤhlig in die Vergeſſen-
heit nach. Ein großer Schritt zur Veredlung iſt ge-
ſchehen, daß die Geſetze tugendhaft ſind, wenn auch
gleich noch nicht die Menſchen. Wo die Zwangspflich-
ten von dem Menſchen ablaſſen, uͤbernehmen ihn die
Sitten. Den keine Strafe ſchreckt und kein Gewiſſen
zuͤgelt, halten jetzt die Geſetze des Anſtands und
der Ehre in Schranken.

Wahr iſt es, auch in unſer Zeitalter haben ſich
noch manche barbariſche Ueberreſte aus den vorigen ein-
gedrungen, Geburten des Zufalls und der Gewalt, die
das Zeitalter der Vernunft nicht haͤtte verewigen ſol-
len. Aber wieviel Geſtalt hat der Verſtand des Men-
ſchen auch dieſem barbariſchen Nachlaß der aͤltern und
mittlern Jahrhunderte anerſchaffen! Wie unſchaͤdlich,
ja wie nuͤtzlich hat er oft gemacht, was er umzuſtuͤr-
tzen noch nicht wagen konnte! Auf dem rohen Grunde
der Lehen-Anarchie fuͤhrte Teutſchland das Syſtem ſei-
ner politiſchen und kirchlichen Freyheit auf. Das
Schattenbild des roͤmiſchen Imperators, das ſich dies-
ſeits der Apenninen erhalten, leiſtet der Welt jezt un-
endlich mehr Gutes, als ſein ſchreckhaftes Urbild im
alten Rom — denn es haͤlt ein nuͤtzliches Staatsſyſtem
durch Eintracht zuſammen: jenes druͤckte die thaͤtig-
ſten Kraͤfte der Menſchheit in einer ſclaviſchen Ein-
foͤrmigkeit
darnieder. Selbſt unſre Religion — ſo ſehr
entſtellt durch die untreuen Haͤnde, durch welche ſie
uns uͤberliefert worden — wer kann in ihr den vere-

deln-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0018" n="16"/>
die barbari&#x017F;chen Verbrechen allma&#x0364;hlig in die Verge&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
heit nach. Ein großer Schritt zur Veredlung i&#x017F;t ge-<lb/>
&#x017F;chehen, daß die Ge&#x017F;etze tugendhaft &#x017F;ind, wenn auch<lb/>
gleich noch nicht die Men&#x017F;chen. Wo die Zwangspflich-<lb/>
ten von dem Men&#x017F;chen abla&#x017F;&#x017F;en, u&#x0364;bernehmen ihn die<lb/>
Sitten. Den keine Strafe &#x017F;chreckt und kein Gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
zu&#x0364;gelt, halten jetzt die Ge&#x017F;etze des An&#x017F;tands und<lb/>
der Ehre in Schranken.</p><lb/>
        <p>Wahr i&#x017F;t es, auch in un&#x017F;er Zeitalter haben &#x017F;ich<lb/>
noch manche barbari&#x017F;che Ueberre&#x017F;te aus den vorigen ein-<lb/>
gedrungen, Geburten des Zufalls und der Gewalt, die<lb/>
das Zeitalter der Vernunft nicht ha&#x0364;tte verewigen &#x017F;ol-<lb/>
len. Aber wieviel Ge&#x017F;talt hat der Ver&#x017F;tand des Men-<lb/>
&#x017F;chen auch die&#x017F;em barbari&#x017F;chen Nachlaß der a&#x0364;ltern und<lb/>
mittlern Jahrhunderte aner&#x017F;chaffen! Wie un&#x017F;cha&#x0364;dlich,<lb/>
ja wie nu&#x0364;tzlich hat er oft gemacht, was er umzu&#x017F;tu&#x0364;r-<lb/>
tzen noch nicht wagen konnte! Auf dem rohen Grunde<lb/>
der Lehen-Anarchie fu&#x0364;hrte Teut&#x017F;chland das Sy&#x017F;tem &#x017F;ei-<lb/>
ner politi&#x017F;chen und kirchlichen Freyheit auf. Das<lb/>
Schattenbild des ro&#x0364;mi&#x017F;chen Imperators, das &#x017F;ich dies-<lb/>
&#x017F;eits der Apenninen erhalten, lei&#x017F;tet der Welt jezt un-<lb/>
endlich mehr Gutes, als &#x017F;ein &#x017F;chreckhaftes Urbild im<lb/>
alten Rom &#x2014; denn es ha&#x0364;lt ein nu&#x0364;tzliches Staats&#x017F;y&#x017F;tem<lb/>
durch <hi rendition="#fr">Eintracht</hi> zu&#x017F;ammen: jenes dru&#x0364;ckte die tha&#x0364;tig-<lb/>
&#x017F;ten Kra&#x0364;fte der Men&#x017F;chheit in einer &#x017F;clavi&#x017F;chen <hi rendition="#fr">Ein-<lb/>
fo&#x0364;rmigkeit</hi> darnieder. Selb&#x017F;t un&#x017F;re Religion &#x2014; &#x017F;o &#x017F;ehr<lb/>
ent&#x017F;tellt durch die untreuen Ha&#x0364;nde, durch welche &#x017F;ie<lb/>
uns u&#x0364;berliefert worden &#x2014; wer kann in ihr den vere-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">deln-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0018] die barbariſchen Verbrechen allmaͤhlig in die Vergeſſen- heit nach. Ein großer Schritt zur Veredlung iſt ge- ſchehen, daß die Geſetze tugendhaft ſind, wenn auch gleich noch nicht die Menſchen. Wo die Zwangspflich- ten von dem Menſchen ablaſſen, uͤbernehmen ihn die Sitten. Den keine Strafe ſchreckt und kein Gewiſſen zuͤgelt, halten jetzt die Geſetze des Anſtands und der Ehre in Schranken. Wahr iſt es, auch in unſer Zeitalter haben ſich noch manche barbariſche Ueberreſte aus den vorigen ein- gedrungen, Geburten des Zufalls und der Gewalt, die das Zeitalter der Vernunft nicht haͤtte verewigen ſol- len. Aber wieviel Geſtalt hat der Verſtand des Men- ſchen auch dieſem barbariſchen Nachlaß der aͤltern und mittlern Jahrhunderte anerſchaffen! Wie unſchaͤdlich, ja wie nuͤtzlich hat er oft gemacht, was er umzuſtuͤr- tzen noch nicht wagen konnte! Auf dem rohen Grunde der Lehen-Anarchie fuͤhrte Teutſchland das Syſtem ſei- ner politiſchen und kirchlichen Freyheit auf. Das Schattenbild des roͤmiſchen Imperators, das ſich dies- ſeits der Apenninen erhalten, leiſtet der Welt jezt un- endlich mehr Gutes, als ſein ſchreckhaftes Urbild im alten Rom — denn es haͤlt ein nuͤtzliches Staatsſyſtem durch Eintracht zuſammen: jenes druͤckte die thaͤtig- ſten Kraͤfte der Menſchheit in einer ſclaviſchen Ein- foͤrmigkeit darnieder. Selbſt unſre Religion — ſo ſehr entſtellt durch die untreuen Haͤnde, durch welche ſie uns uͤberliefert worden — wer kann in ihr den vere- deln-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789/18
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789/18>, abgerufen am 25.11.2024.