Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.aber diese immer eine schöne, eine erhebende Fiction, und Die Horen. 1795. 12tes St. 4
aber dieſe immer eine ſchoͤne, eine erhebende Fiction, und Die Horen. 1795. 12tes St. 4
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0056" n="49"/> aber dieſe immer eine ſchoͤne, eine erhebende Fiction, und<lb/> die Dichtungskraft hat in Darſtellung derſelben wirklich<lb/> fuͤr das Ideal gearbeitet. Denn fuͤr den Menſchen, der<lb/> von der Einfalt der Natur einmal abgewichen und der<lb/> gefaͤhrlichen Fuͤhrung ſeiner Vernunft uͤberliefert worden<lb/> iſt, iſt es von unendlicher Wichtigkeit, die Geſetzgebung<lb/> der Natur in einem reinen Exemplar wieder anzuſchauen,<lb/> und ſich von den Verderbniſſen der Kunſt in dieſem treuen<lb/> Spiegel wieder reinigen zu koͤnnen. Aber ein Umſtand<lb/> findet ſich dabey, der den aͤſthetiſchen Werth ſolcher Dich-<lb/> tungen um ſehr viel vermindert. <hi rendition="#g">Vor den Anfang<lb/> der Kultur</hi> gepflanzt ſchließen ſie mit den Nachtheilen<lb/> zugleich alle Vortheile derſelben aus, und befinden ſich ih-<lb/> rem Weſen nach, in einem nothwendigen Streit mit der-<lb/> ſelben. Sie fuͤhren uns alſo <hi rendition="#g">theoretiſch</hi> ruͤckwaͤrts,<lb/> indem ſie uns <hi rendition="#g">praktiſch</hi> vorwaͤrts fuͤhren und veredeln.<lb/> Sie ſtellen ungluͤcklicherweiſe das Ziel <hi rendition="#g">hinter</hi> uns, dem<lb/> ſie uns doch <hi rendition="#g">entgegen fuͤhren</hi> ſollten, und koͤnnen<lb/> uns daher bloß das traurige Gefuͤhl eines Verluſtes, nicht<lb/> das froͤhliche der Hofnung einfloͤßen. Weil ſie nur durch<lb/> Aufhebung aller Kunſt und nur durch Vereinfachung der<lb/> menſchlichen Natur ihren Zweck ausfuͤhren, ſo haben ſie,<lb/> bey dem hoͤchſten Gehalt fuͤr das <hi rendition="#g">Herz</hi>, allzuwenig fuͤr<lb/> den <hi rendition="#g">Geiſt</hi>, und ihr einfoͤrmiger Kreis iſt zu ſchnell geen-<lb/> digt. Wir koͤnnen ſie daher nur lieben und aufſuchen,<lb/> wenn wir der Ruhe beduͤrftig ſind, nicht wenn unſre<lb/> Kraͤfte nach Bewegung und Thaͤtigkeit ſtreben. Sie koͤn-<lb/> nen nur dem kranken Gemuͤthe <hi rendition="#g">Heilung</hi>, dem geſunden<lb/> keine <hi rendition="#g">Nahrung</hi> geben; ſie koͤnnen nicht beleben, nur<lb/> beſaͤnftigen. Dieſen in dem Weſen der Hirtenidylle ge-<lb/> gruͤndeten Mangel hat alle Kunſt der Poeten nicht gut ma-<lb/> chen koͤnnen. Zwar fehlt es auch dieſer Dichtart nicht an<lb/> <fw place="bottom" type="sig">Die Horen. 1795. 12tes St. 4</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [49/0056]
aber dieſe immer eine ſchoͤne, eine erhebende Fiction, und
die Dichtungskraft hat in Darſtellung derſelben wirklich
fuͤr das Ideal gearbeitet. Denn fuͤr den Menſchen, der
von der Einfalt der Natur einmal abgewichen und der
gefaͤhrlichen Fuͤhrung ſeiner Vernunft uͤberliefert worden
iſt, iſt es von unendlicher Wichtigkeit, die Geſetzgebung
der Natur in einem reinen Exemplar wieder anzuſchauen,
und ſich von den Verderbniſſen der Kunſt in dieſem treuen
Spiegel wieder reinigen zu koͤnnen. Aber ein Umſtand
findet ſich dabey, der den aͤſthetiſchen Werth ſolcher Dich-
tungen um ſehr viel vermindert. Vor den Anfang
der Kultur gepflanzt ſchließen ſie mit den Nachtheilen
zugleich alle Vortheile derſelben aus, und befinden ſich ih-
rem Weſen nach, in einem nothwendigen Streit mit der-
ſelben. Sie fuͤhren uns alſo theoretiſch ruͤckwaͤrts,
indem ſie uns praktiſch vorwaͤrts fuͤhren und veredeln.
Sie ſtellen ungluͤcklicherweiſe das Ziel hinter uns, dem
ſie uns doch entgegen fuͤhren ſollten, und koͤnnen
uns daher bloß das traurige Gefuͤhl eines Verluſtes, nicht
das froͤhliche der Hofnung einfloͤßen. Weil ſie nur durch
Aufhebung aller Kunſt und nur durch Vereinfachung der
menſchlichen Natur ihren Zweck ausfuͤhren, ſo haben ſie,
bey dem hoͤchſten Gehalt fuͤr das Herz, allzuwenig fuͤr
den Geiſt, und ihr einfoͤrmiger Kreis iſt zu ſchnell geen-
digt. Wir koͤnnen ſie daher nur lieben und aufſuchen,
wenn wir der Ruhe beduͤrftig ſind, nicht wenn unſre
Kraͤfte nach Bewegung und Thaͤtigkeit ſtreben. Sie koͤn-
nen nur dem kranken Gemuͤthe Heilung, dem geſunden
keine Nahrung geben; ſie koͤnnen nicht beleben, nur
beſaͤnftigen. Dieſen in dem Weſen der Hirtenidylle ge-
gruͤndeten Mangel hat alle Kunſt der Poeten nicht gut ma-
chen koͤnnen. Zwar fehlt es auch dieſer Dichtart nicht an
Die Horen. 1795. 12tes St. 4
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