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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

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Die poetische Darstellung unschuldiger und glücklicher
Menschheit ist der allgemeine Begriff dieser Dichtungsart.

se, welche sowohl jenen als diesen eigen ist. Daß es aber,
ausserhalb den Grenzen naiver Dichtung, nur diese dreyfache
Empfindungsweise und Dichtungsweise geben könne, folglich
das Feld sentimentalischer Poesie durch diese Eintheilung voll-
ständig ausgemessen sey, läßt sich aus dem Begriff der letz-
tern leichtlich deducieren.
Die sentimentalische Dichtung nehmlich unterscheidet sich
dadurch von der naiven, daß sie den wirklichen Zustand, bey dem
die letztere stehen bleibt auf Ideen bezieht, und Ideen auf die
Wirklichkeit anwendet. Sie hat es daher immer, wie auch
schon oben bemerkt worden ist; mit zwey streitenden Objek-
ten, mit dem Ideale nehmlich und mit der Erfahrung, zu-
gleich zu thun, zwischen welchen sich weder mehr noch weni-
ger als gerade die drey folgenden Verhältnisse denken lassen.
Entweder ist es der Widerspruch des wirklichen Zustandes
oder es ist die Uebereinstimmung desse[l]ben mit dem
Ideal, welche vorzugsweise das Gemüth beschäftigt; oder
dieses ist zwischen beyden getheilt. In dem ersten Falle wird
es durch die Kraft des innern Streits, durch die ener-
gische Bewegung
, in dem andern wird es durch die
Harmonie des innern Lebens, durch die energische Ru-
he
befriedigt; in dem dritten wechselt Streit mit Har-
monie, wechselt Ruhe mit Bewegung. Dieser dreyfache Em-
pfindungszustand giebt drey verschiedenen Dichtungsarten die
Entstehung, denen die gebrauchten Benennungen Satyre,
Idylle, Elegie
vollkommen entsprechend sind, sobald
man sich nur an die Stimmung erinnert, in welche die, un-
ter diesem Nahmen vorkommenden Gedichtarten das Gemüth
versetzen, und von den Mitteln abstrahiert, wodurch sie die-
selbe bewirken.
Wer daher hier noch fragen könnte, zu welcher von den
drey Gattungen ich die Epopee, den Roman, das Trauer-
spiel u. a. m. zähle, der würde mich ganz und gar nicht ver-
standen haben. Denn der Begriff dieser letztern, als einzel-
ner Gedichtarten, wird entweder gar nicht oder doch
nicht allein durch die Empfindungsweise bestimmt; vielmehr
weiß man, daß solche in mehr als einer Empfindungsweise,
folglich auch in mehrern der von mir aufgestellten Dichtungs-
arten können ausgeführt werden.
Schließlich bemerke ich hier noch, daß, wenn man die
sentimalische Poesie, wie billig, für eine ächte Art (nicht
bloß für eine Abart) und für eine Erweiterung der wahren
Dichtkunst zu halten geneigt ist, in der Bestimmung der poe-
tischen Arten so wie überhaupt in der ganzen poetischen Ge-
setzgebung, welche noch immer einseitig auf die Observanz
der alten und naiven Dichter gegründet wird, auch auf sie

Die poetiſche Darſtellung unſchuldiger und gluͤcklicher
Menſchheit iſt der allgemeine Begriff dieſer Dichtungsart.

ſe, welche ſowohl jenen als dieſen eigen iſt. Daß es aber,
auſſerhalb den Grenzen naiver Dichtung, nur dieſe dreyfache
Empfindungsweiſe und Dichtungsweiſe geben koͤnne, folglich
das Feld ſentimentaliſcher Poeſie durch dieſe Eintheilung voll-
ſtaͤndig ausgemeſſen ſey, laͤßt ſich aus dem Begriff der letz-
tern leichtlich deducieren.
Die ſentimentaliſche Dichtung nehmlich unterſcheidet ſich
dadurch von der naiven, daß ſie den wirklichen Zuſtand, bey dem
die letztere ſtehen bleibt auf Ideen bezieht, und Ideen auf die
Wirklichkeit anwendet. Sie hat es daher immer, wie auch
ſchon oben bemerkt worden iſt; mit zwey ſtreitenden Objek-
ten, mit dem Ideale nehmlich und mit der Erfahrung, zu-
gleich zu thun, zwiſchen welchen ſich weder mehr noch weni-
ger als gerade die drey folgenden Verhaͤltniſſe denken laſſen.
Entweder iſt es der Widerſpruch des wirklichen Zuſtandes
oder es iſt die Uebereinſtimmung deſſe[l]ben mit dem
Ideal, welche vorzugsweiſe das Gemuͤth beſchaͤftigt; oder
dieſes iſt zwiſchen beyden getheilt. In dem erſten Falle wird
es durch die Kraft des innern Streits, durch die ener-
giſche Bewegung
, in dem andern wird es durch die
Harmonie des innern Lebens, durch die energiſche Ru-
he
befriedigt; in dem dritten wechſelt Streit mit Har-
monie, wechſelt Ruhe mit Bewegung. Dieſer dreyfache Em-
pfindungszuſtand giebt drey verſchiedenen Dichtungsarten die
Entſtehung, denen die gebrauchten Benennungen Satyre,
Idylle, Elegie
vollkommen entſprechend ſind, ſobald
man ſich nur an die Stimmung erinnert, in welche die, un-
ter dieſem Nahmen vorkommenden Gedichtarten das Gemuͤth
verſetzen, und von den Mitteln abſtrahiert, wodurch ſie die-
ſelbe bewirken.
Wer daher hier noch fragen koͤnnte, zu welcher von den
drey Gattungen ich die Epopee, den Roman, das Trauer-
ſpiel u. a. m. zaͤhle, der wuͤrde mich ganz und gar nicht ver-
ſtanden haben. Denn der Begriff dieſer letztern, als einzel-
ner Gedichtarten, wird entweder gar nicht oder doch
nicht allein durch die Empfindungsweiſe beſtimmt; vielmehr
weiß man, daß ſolche in mehr als einer Empfindungsweiſe,
folglich auch in mehrern der von mir aufgeſtellten Dichtungs-
arten koͤnnen ausgefuͤhrt werden.
Schließlich bemerke ich hier noch, daß, wenn man die
ſentimaliſche Poeſie, wie billig, fuͤr eine aͤchte Art (nicht
bloß fuͤr eine Abart) und fuͤr eine Erweiterung der wahren
Dichtkunſt zu halten geneigt iſt, in der Beſtimmung der poe-
tiſchen Arten ſo wie uͤberhaupt in der ganzen poetiſchen Ge-
ſetzgebung, welche noch immer einſeitig auf die Obſervanz
der alten und naiven Dichter gegruͤndet wird, auch auf ſie
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[46/0053] Die poetiſche Darſtellung unſchuldiger und gluͤcklicher Menſchheit iſt der allgemeine Begriff dieſer Dichtungsart. * * ſe, welche ſowohl jenen als dieſen eigen iſt. Daß es aber, auſſerhalb den Grenzen naiver Dichtung, nur dieſe dreyfache Empfindungsweiſe und Dichtungsweiſe geben koͤnne, folglich das Feld ſentimentaliſcher Poeſie durch dieſe Eintheilung voll- ſtaͤndig ausgemeſſen ſey, laͤßt ſich aus dem Begriff der letz- tern leichtlich deducieren. Die ſentimentaliſche Dichtung nehmlich unterſcheidet ſich dadurch von der naiven, daß ſie den wirklichen Zuſtand, bey dem die letztere ſtehen bleibt auf Ideen bezieht, und Ideen auf die Wirklichkeit anwendet. Sie hat es daher immer, wie auch ſchon oben bemerkt worden iſt; mit zwey ſtreitenden Objek- ten, mit dem Ideale nehmlich und mit der Erfahrung, zu- gleich zu thun, zwiſchen welchen ſich weder mehr noch weni- ger als gerade die drey folgenden Verhaͤltniſſe denken laſſen. Entweder iſt es der Widerſpruch des wirklichen Zuſtandes oder es iſt die Uebereinſtimmung deſſelben mit dem Ideal, welche vorzugsweiſe das Gemuͤth beſchaͤftigt; oder dieſes iſt zwiſchen beyden getheilt. In dem erſten Falle wird es durch die Kraft des innern Streits, durch die ener- giſche Bewegung, in dem andern wird es durch die Harmonie des innern Lebens, durch die energiſche Ru- he befriedigt; in dem dritten wechſelt Streit mit Har- monie, wechſelt Ruhe mit Bewegung. Dieſer dreyfache Em- pfindungszuſtand giebt drey verſchiedenen Dichtungsarten die Entſtehung, denen die gebrauchten Benennungen Satyre, Idylle, Elegie vollkommen entſprechend ſind, ſobald man ſich nur an die Stimmung erinnert, in welche die, un- ter dieſem Nahmen vorkommenden Gedichtarten das Gemuͤth verſetzen, und von den Mitteln abſtrahiert, wodurch ſie die- ſelbe bewirken. Wer daher hier noch fragen koͤnnte, zu welcher von den drey Gattungen ich die Epopee, den Roman, das Trauer- ſpiel u. a. m. zaͤhle, der wuͤrde mich ganz und gar nicht ver- ſtanden haben. Denn der Begriff dieſer letztern, als einzel- ner Gedichtarten, wird entweder gar nicht oder doch nicht allein durch die Empfindungsweiſe beſtimmt; vielmehr weiß man, daß ſolche in mehr als einer Empfindungsweiſe, folglich auch in mehrern der von mir aufgeſtellten Dichtungs- arten koͤnnen ausgefuͤhrt werden. Schließlich bemerke ich hier noch, daß, wenn man die ſentimaliſche Poeſie, wie billig, fuͤr eine aͤchte Art (nicht bloß fuͤr eine Abart) und fuͤr eine Erweiterung der wahren Dichtkunſt zu halten geneigt iſt, in der Beſtimmung der poe- tiſchen Arten ſo wie uͤberhaupt in der ganzen poetiſchen Ge- ſetzgebung, welche noch immer einſeitig auf die Obſervanz der alten und naiven Dichter gegruͤndet wird, auch auf ſie

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/53>, abgerufen am 22.11.2024.