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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

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noch die Figuren in diesem Gedichte seyn, aber nicht für
die Anschauung; nur die Abstraktion hat sie erschaffen,
nur die Abstraktion kann sie unterscheiden. Sie sind gute
Exempel zu Begriffen, aber keine Individuen, keine le-
bende Gestalten. Der Einbildungskraft, an die doch
der Dichter sich wenden, und die er durch die durch-
gängige Bestimmtheit seiner Formen beherrschen soll, ist
es viel zu sehr frey gestellt, auf was Art sie sich diese
Menschen und Engel, diese Götter und Satane, diesen
Himmel und diese Hölle versinnlichen will. Es ist ein
Umriß gegeben, innerhalb dessen der Verstand sie noth-
wendig denken muß, aber keine feste Grenze ist gesetzt,
innerhalb deren die Phantasie sie nothwendig darstellen
müßte. Was ich hier von den Charakteren sage, gilt von
allem, was in diesem Gedichte Leben und Handlung ist
oder seyn soll; und nicht bloß in dieser Epopee, auch in
den dramatischen Poesien unsers Dichters. Für den Ver-
stand ist alles treflich bestimmt und begrenzet (ich will
hier nur an seinen Judas, seinen Pilatus, seinen Philo,
seinen Salomo, im Trauerspiel dieses Nahmens erinnern)
aber es ist viel zu formlos für die Einbildungskraft und
hier, ich gestehe es frey heraus, finde ich diesen Dichter
ganz und gar nicht in seiner Sphäre.

Seine Sphäre ist immer das Ideenreich, und ins Un-
endliche weiß er alles, was er bearbeitet, hinüber zu
führen. Man möchte sagen, er ziehe allem, was er be-
handelt, den Körper aus, um es zu Geist zu machen,
so wie andre Dichter alles geistige mit einem Körper be-
kleiden. Beynahe jeder Genuß, den seine Dichtungen
gewähren, muß durch eine Uebung der Denkkraft errun-
gen werden; alle Gefühle, die er, und zwar so innig und

noch die Figuren in dieſem Gedichte ſeyn, aber nicht fuͤr
die Anſchauung; nur die Abſtraktion hat ſie erſchaffen,
nur die Abſtraktion kann ſie unterſcheiden. Sie ſind gute
Exempel zu Begriffen, aber keine Individuen, keine le-
bende Geſtalten. Der Einbildungskraft, an die doch
der Dichter ſich wenden, und die er durch die durch-
gaͤngige Beſtimmtheit ſeiner Formen beherrſchen ſoll, iſt
es viel zu ſehr frey geſtellt, auf was Art ſie ſich dieſe
Menſchen und Engel, dieſe Goͤtter und Satane, dieſen
Himmel und dieſe Hoͤlle verſinnlichen will. Es iſt ein
Umriß gegeben, innerhalb deſſen der Verſtand ſie noth-
wendig denken muß, aber keine feſte Grenze iſt geſetzt,
innerhalb deren die Phantaſie ſie nothwendig darſtellen
muͤßte. Was ich hier von den Charakteren ſage, gilt von
allem, was in dieſem Gedichte Leben und Handlung iſt
oder ſeyn ſoll; und nicht bloß in dieſer Epopee, auch in
den dramatiſchen Poeſien unſers Dichters. Fuͤr den Ver-
ſtand iſt alles treflich beſtimmt und begrenzet (ich will
hier nur an ſeinen Judas, ſeinen Pilatus, ſeinen Philo,
ſeinen Salomo, im Trauerſpiel dieſes Nahmens erinnern)
aber es iſt viel zu formlos fuͤr die Einbildungskraft und
hier, ich geſtehe es frey heraus, finde ich dieſen Dichter
ganz und gar nicht in ſeiner Sphaͤre.

Seine Sphaͤre iſt immer das Ideenreich, und ins Un-
endliche weiß er alles, was er bearbeitet, hinuͤber zu
fuͤhren. Man moͤchte ſagen, er ziehe allem, was er be-
handelt, den Koͤrper aus, um es zu Geiſt zu machen,
ſo wie andre Dichter alles geiſtige mit einem Koͤrper be-
kleiden. Beynahe jeder Genuß, den ſeine Dichtungen
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gen werden; alle Gefuͤhle, die er, und zwar ſo innig und

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[32/0039] noch die Figuren in dieſem Gedichte ſeyn, aber nicht fuͤr die Anſchauung; nur die Abſtraktion hat ſie erſchaffen, nur die Abſtraktion kann ſie unterſcheiden. Sie ſind gute Exempel zu Begriffen, aber keine Individuen, keine le- bende Geſtalten. Der Einbildungskraft, an die doch der Dichter ſich wenden, und die er durch die durch- gaͤngige Beſtimmtheit ſeiner Formen beherrſchen ſoll, iſt es viel zu ſehr frey geſtellt, auf was Art ſie ſich dieſe Menſchen und Engel, dieſe Goͤtter und Satane, dieſen Himmel und dieſe Hoͤlle verſinnlichen will. Es iſt ein Umriß gegeben, innerhalb deſſen der Verſtand ſie noth- wendig denken muß, aber keine feſte Grenze iſt geſetzt, innerhalb deren die Phantaſie ſie nothwendig darſtellen muͤßte. Was ich hier von den Charakteren ſage, gilt von allem, was in dieſem Gedichte Leben und Handlung iſt oder ſeyn ſoll; und nicht bloß in dieſer Epopee, auch in den dramatiſchen Poeſien unſers Dichters. Fuͤr den Ver- ſtand iſt alles treflich beſtimmt und begrenzet (ich will hier nur an ſeinen Judas, ſeinen Pilatus, ſeinen Philo, ſeinen Salomo, im Trauerſpiel dieſes Nahmens erinnern) aber es iſt viel zu formlos fuͤr die Einbildungskraft und hier, ich geſtehe es frey heraus, finde ich dieſen Dichter ganz und gar nicht in ſeiner Sphaͤre. Seine Sphaͤre iſt immer das Ideenreich, und ins Un- endliche weiß er alles, was er bearbeitet, hinuͤber zu fuͤhren. Man moͤchte ſagen, er ziehe allem, was er be- handelt, den Koͤrper aus, um es zu Geiſt zu machen, ſo wie andre Dichter alles geiſtige mit einem Koͤrper be- kleiden. Beynahe jeder Genuß, den ſeine Dichtungen gewaͤhren, muß durch eine Uebung der Denkkraft errun- gen werden; alle Gefuͤhle, die er, und zwar ſo innig und

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/39>, abgerufen am 24.11.2024.