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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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tet? Frage dich wohl, wenn die Kunst dich aneckelt und
die Mißbräuche in der Gesellschaft dich zu der leblosen
Natur in die Einsamkeit treiben, ob es ihre Beraubun-
gen, ihre Lasten, ihre Mühseligkeiten, oder ob es ihre
moralische Anarchie, ihre Willkür, ihre Unordnungen
sind, die du an ihr verabscheust? In jene muß dein
Muth sich mit Freuden stürzen und dein Ersatz muß die
Freyheit selbst seyn, aus der sie fliessen. Wohl darfst
du dir das ruhige Naturglück zum Ziel in der Ferne
ausstecken, aber nur jenes, welches der Preiß deiner Wür-
digkeit ist. Also nichts von Klagen über die Erschwerung
des Lebens, über die Ungleichheit der Konditionen, über
den Druck der Verhältnisse, über die Unsicherheit des
Besitzes, über Undank, Unterdrückung, Verfolgung;
allen Uebeln der Kultur mußt du mit freyer Resigna-
tion dich unterwerfen, mußt sie als die Naturbedingun-
gen des Einzig guten respektieren; nur das Böse dersel-
ben mußt du, aber nicht bloß mit schlaffen Thränen, be-
klagen. Sorge vielmehr dafür; daß du selbst unter jenen
Befleckungen rein, unter jener Knechtschaft frey, unter
jenem launischen Wechsel beständig, unter jener Anarchie
gesetzmäßig handelst. Fürchte dich nicht vor der Verwir-
rung ausser dir, aber vor der Verwirrung in dir; strebe
nach Einheit, aber suche sie nicht in der Einförmigkeit;
strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht
durch den Stillstand deiner Thätigkeit. Jene Natur,
die du dem Vernunftlosen beneidest, ist keiner Achtung,
keiner Sehnsucht werth. Sie liegt hinter dir, sie muß
ewig hinter dir liegen. Verlassen von der Leiter, die
dich trug, bleibt dir jetzt keine andere Wahl mehr, als
mit freyem Bewußtseyn und Willen das Gesetz zu ergrei-
fen, oder rettungslos in eine bodenlose Tiefe zu fallen.

Die Horen. 1795. 11tes St. 5

tet? Frage dich wohl, wenn die Kunſt dich aneckelt und
die Mißbraͤuche in der Geſellſchaft dich zu der lebloſen
Natur in die Einſamkeit treiben, ob es ihre Beraubun-
gen, ihre Laſten, ihre Muͤhſeligkeiten, oder ob es ihre
moraliſche Anarchie, ihre Willkuͤr, ihre Unordnungen
ſind, die du an ihr verabſcheuſt? In jene muß dein
Muth ſich mit Freuden ſtuͤrzen und dein Erſatz muß die
Freyheit ſelbſt ſeyn, aus der ſie flieſſen. Wohl darfſt
du dir das ruhige Naturgluͤck zum Ziel in der Ferne
auſſtecken, aber nur jenes, welches der Preiß deiner Wuͤr-
digkeit iſt. Alſo nichts von Klagen uͤber die Erſchwerung
des Lebens, uͤber die Ungleichheit der Konditionen, uͤber
den Druck der Verhaͤltniſſe, uͤber die Unſicherheit des
Beſitzes, uͤber Undank, Unterdruͤckung, Verfolgung;
allen Uebeln der Kultur mußt du mit freyer Reſigna-
tion dich unterwerfen, mußt ſie als die Naturbedingun-
gen des Einzig guten reſpektieren; nur das Boͤſe derſel-
ben mußt du, aber nicht bloß mit ſchlaffen Thraͤnen, be-
klagen. Sorge vielmehr dafuͤr; daß du ſelbſt unter jenen
Befleckungen rein, unter jener Knechtſchaft frey, unter
jenem launiſchen Wechſel beſtaͤndig, unter jener Anarchie
geſetzmaͤßig handelſt. Fuͤrchte dich nicht vor der Verwir-
rung auſſer dir, aber vor der Verwirrung in dir; ſtrebe
nach Einheit, aber ſuche ſie nicht in der Einfoͤrmigkeit;
ſtrebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht
durch den Stillſtand deiner Thaͤtigkeit. Jene Natur,
die du dem Vernunftloſen beneideſt, iſt keiner Achtung,
keiner Sehnſucht werth. Sie liegt hinter dir, ſie muß
ewig hinter dir liegen. Verlaſſen von der Leiter, die
dich trug, bleibt dir jetzt keine andere Wahl mehr, als
mit freyem Bewußtſeyn und Willen das Geſetz zu ergrei-
fen, oder rettungslos in eine bodenloſe Tiefe zu fallen.

Die Horen. 1795. 11tes St. 5
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[65/0033] tet? Frage dich wohl, wenn die Kunſt dich aneckelt und die Mißbraͤuche in der Geſellſchaft dich zu der lebloſen Natur in die Einſamkeit treiben, ob es ihre Beraubun- gen, ihre Laſten, ihre Muͤhſeligkeiten, oder ob es ihre moraliſche Anarchie, ihre Willkuͤr, ihre Unordnungen ſind, die du an ihr verabſcheuſt? In jene muß dein Muth ſich mit Freuden ſtuͤrzen und dein Erſatz muß die Freyheit ſelbſt ſeyn, aus der ſie flieſſen. Wohl darfſt du dir das ruhige Naturgluͤck zum Ziel in der Ferne auſſtecken, aber nur jenes, welches der Preiß deiner Wuͤr- digkeit iſt. Alſo nichts von Klagen uͤber die Erſchwerung des Lebens, uͤber die Ungleichheit der Konditionen, uͤber den Druck der Verhaͤltniſſe, uͤber die Unſicherheit des Beſitzes, uͤber Undank, Unterdruͤckung, Verfolgung; allen Uebeln der Kultur mußt du mit freyer Reſigna- tion dich unterwerfen, mußt ſie als die Naturbedingun- gen des Einzig guten reſpektieren; nur das Boͤſe derſel- ben mußt du, aber nicht bloß mit ſchlaffen Thraͤnen, be- klagen. Sorge vielmehr dafuͤr; daß du ſelbſt unter jenen Befleckungen rein, unter jener Knechtſchaft frey, unter jenem launiſchen Wechſel beſtaͤndig, unter jener Anarchie geſetzmaͤßig handelſt. Fuͤrchte dich nicht vor der Verwir- rung auſſer dir, aber vor der Verwirrung in dir; ſtrebe nach Einheit, aber ſuche ſie nicht in der Einfoͤrmigkeit; ſtrebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillſtand deiner Thaͤtigkeit. Jene Natur, die du dem Vernunftloſen beneideſt, iſt keiner Achtung, keiner Sehnſucht werth. Sie liegt hinter dir, ſie muß ewig hinter dir liegen. Verlaſſen von der Leiter, die dich trug, bleibt dir jetzt keine andere Wahl mehr, als mit freyem Bewußtſeyn und Willen das Geſetz zu ergrei- fen, oder rettungslos in eine bodenloſe Tiefe zu fallen. Die Horen. 1795. 11tes St. 5

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/33>, abgerufen am 28.03.2024.