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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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Mißbräuche in der Kirche rührten ihn, und er war viel
zu redlich, öffentlich zu dißimulieren, was er im stillen sich
eingestand. Dieser Denkart gemäß ließ er sich in der In-
struktion
, die er seinem Legaten nach Deutschland mit-
gab, zu Geständnißen verleiten, die noch bey keinem Pab-
ste erhört gewesen waren, und den Grundsätzen dieses
Hofes schnurgerade zuwiderliefen. "Wir wissen es wohl,
"hieß es unter andern, daß an diesem heiligen Stuhl
"schon seit mehrern Jahren viel Abscheuliches vorgegan-
"gen; kein Wunder, wenn sich der kranke Zustand von
"dem Haupt auf die Glieder, von dem Pabst auf die
"Prälaten fortgeerbt hat. Wir alle sind abgewichen,
"und schon seit lange ist keiner unter uns gewesen, der et-
"was Gutes gethan hätte auch nicht Einer." Wieder
anderswo befiehlt er dem Legaten in Seinem Nahmen zu
erklären, "daß er, Adrian, wegen dessen, was vor ihm
"von den Päbsten geschehen, nicht dürfe getadelt werden,
"und daß dergleichen Ausschweifungen, auch da er noch
"in einem geringen Stande gelebt, ihm immer mißfal-
"len hätten u. s. f. Man kann leicht denken, wie eine
solche Naivität des Pabstes von der römischen Klerisey
mag aufgenommen worden seyn; das wenigste, was man
ihm Schuld gab war, daß er die Kirche an die Ketzer
verrathen habe. Dieser höchst unkluge Schritt des Pabstes
würde indessen unserer ganzen Achtung und Bewunderung
werth seyn, wenn wir uns nur überzeugen könnten, daß er
wirklich naiv gewesen d. h. daß er ihm bloß durch die
natürliche Wahrheit seines Charakters ohne alle Rück-
sicht auf die möglichen Folgen abgenöthiget worden sey,
und daß er ihn nicht weniger gethan haben würde, wenn
er die begangene Sottise in ihrem ganzen Umfang einge-
sehen hätte. Aber wir haben vielmehr Ursache zu glau-

Mißbraͤuche in der Kirche ruͤhrten ihn, und er war viel
zu redlich, oͤffentlich zu dißimulieren, was er im ſtillen ſich
eingeſtand. Dieſer Denkart gemaͤß ließ er ſich in der In-
ſtruktion
, die er ſeinem Legaten nach Deutſchland mit-
gab, zu Geſtaͤndnißen verleiten, die noch bey keinem Pab-
ſte erhoͤrt geweſen waren, und den Grundſaͤtzen dieſes
Hofes ſchnurgerade zuwiderliefen. „Wir wiſſen es wohl,
„hieß es unter andern, daß an dieſem heiligen Stuhl
„ſchon ſeit mehrern Jahren viel Abſcheuliches vorgegan-
„gen; kein Wunder, wenn ſich der kranke Zuſtand von
„dem Haupt auf die Glieder, von dem Pabſt auf die
„Praͤlaten fortgeerbt hat. Wir alle ſind abgewichen,
„und ſchon ſeit lange iſt keiner unter uns geweſen, der et-
„was Gutes gethan haͤtte auch nicht Einer.“ Wieder
anderswo befiehlt er dem Legaten in Seinem Nahmen zu
erklaͤren, „daß er, Adrian, wegen deſſen, was vor ihm
„von den Paͤbſten geſchehen, nicht duͤrfe getadelt werden,
„und daß dergleichen Ausſchweifungen, auch da er noch
„in einem geringen Stande gelebt, ihm immer mißfal-
„len haͤtten u. ſ. f. Man kann leicht denken, wie eine
ſolche Naivitaͤt des Pabſtes von der roͤmiſchen Kleriſey
mag aufgenommen worden ſeyn; das wenigſte, was man
ihm Schuld gab war, daß er die Kirche an die Ketzer
verrathen habe. Dieſer hoͤchſt unkluge Schritt des Pabſtes
wuͤrde indeſſen unſerer ganzen Achtung und Bewunderung
werth ſeyn, wenn wir uns nur uͤberzeugen koͤnnten, daß er
wirklich naiv geweſen d. h. daß er ihm bloß durch die
natuͤrliche Wahrheit ſeines Charakters ohne alle Ruͤck-
ſicht auf die moͤglichen Folgen abgenoͤthiget worden ſey,
und daß er ihn nicht weniger gethan haben wuͤrde, wenn
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[58/0026] Mißbraͤuche in der Kirche ruͤhrten ihn, und er war viel zu redlich, oͤffentlich zu dißimulieren, was er im ſtillen ſich eingeſtand. Dieſer Denkart gemaͤß ließ er ſich in der In- ſtruktion, die er ſeinem Legaten nach Deutſchland mit- gab, zu Geſtaͤndnißen verleiten, die noch bey keinem Pab- ſte erhoͤrt geweſen waren, und den Grundſaͤtzen dieſes Hofes ſchnurgerade zuwiderliefen. „Wir wiſſen es wohl, „hieß es unter andern, daß an dieſem heiligen Stuhl „ſchon ſeit mehrern Jahren viel Abſcheuliches vorgegan- „gen; kein Wunder, wenn ſich der kranke Zuſtand von „dem Haupt auf die Glieder, von dem Pabſt auf die „Praͤlaten fortgeerbt hat. Wir alle ſind abgewichen, „und ſchon ſeit lange iſt keiner unter uns geweſen, der et- „was Gutes gethan haͤtte auch nicht Einer.“ Wieder anderswo befiehlt er dem Legaten in Seinem Nahmen zu erklaͤren, „daß er, Adrian, wegen deſſen, was vor ihm „von den Paͤbſten geſchehen, nicht duͤrfe getadelt werden, „und daß dergleichen Ausſchweifungen, auch da er noch „in einem geringen Stande gelebt, ihm immer mißfal- „len haͤtten u. ſ. f. Man kann leicht denken, wie eine ſolche Naivitaͤt des Pabſtes von der roͤmiſchen Kleriſey mag aufgenommen worden ſeyn; das wenigſte, was man ihm Schuld gab war, daß er die Kirche an die Ketzer verrathen habe. Dieſer hoͤchſt unkluge Schritt des Pabſtes wuͤrde indeſſen unſerer ganzen Achtung und Bewunderung werth ſeyn, wenn wir uns nur uͤberzeugen koͤnnten, daß er wirklich naiv geweſen d. h. daß er ihm bloß durch die natuͤrliche Wahrheit ſeines Charakters ohne alle Ruͤck- ſicht auf die moͤglichen Folgen abgenoͤthiget worden ſey, und daß er ihn nicht weniger gethan haben wuͤrde, wenn er die begangene Sottiſe in ihrem ganzen Umfang einge- ſehen haͤtte. Aber wir haben vielmehr Urſache zu glau-

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/26>, abgerufen am 24.11.2024.