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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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an den Höfen der Könige mit einer Ingenuität und Un-
schuld, wie man sie nur in einer Schäferwelt findet.

Es ist übrigens gar nicht so leicht, die kindische Un-
schuld von der kindlichen immer richtig zu unterscheiden,
indem es Handlungen giebt, welche auf der äusersten
Grenze zwischen beyden schweben, und bey denen wir
schlechterdings im Zweifel gelassen werden, ob wir die Ein-
fältigkeit belachen oder die edle Einfalt hochschätzen sollen.
Ein sehr merkwürdiges Beyspiel dieser Art findet man in
der Regierungsgeschichte des Pabstes Adrian des
Sechsten
, die uns Herr Schröckh mit der ihm eigenen
Gründlichkeit und pragmatischen Wahrheit beschrieben
hat. Dieser Pabst, ein Niederländer von Geburt, ver-
waltete das Pontifikat in einem der kritischsten Augenblicke
für die Hierarchie, wo eine erbitterte Parthey die Blößen
der römischen Kirche ohne alle Schonung aufdeckte, und
die Gegenparthey im höchsten Grad interessiert war, sie
zuzudecken. Was der wahrhaft naive Charakter, wenn
ja ein solcher sich auf den Stuhl des heiligen Peters ver-
irrte, in diesem Falle zu thun hatte ist keine Frage; wohl
aber wie weit eine solche Naivität der Gesinnung mit der
Rolle eines Pabstes verträglich seyn möchte. Dieß war
es übrigens, was die Vorgänger und die Nachfolger Adri-
ans in die geringste Verlegenheit setzte. Mit Gleichförmig-
keit befolgten sie das einmal angenommene römische System,
überall nichts einzuräumen. Aber Adrian hatte wirklich
den geraden Charakter seiner Nation, und die Unschuld
seines ehemaligen Standes. Aus der engen Sphäre des
Gelehrten war er zu seinem erhabenen Posten emporge-
stiegen, und selbst auf der Höhe seiner neuen Würde je-
nem einfachen Charakter nicht untreu geworden. Die

an den Hoͤfen der Koͤnige mit einer Ingenuitaͤt und Un-
ſchuld, wie man ſie nur in einer Schaͤferwelt findet.

Es iſt uͤbrigens gar nicht ſo leicht, die kindiſche Un-
ſchuld von der kindlichen immer richtig zu unterſcheiden,
indem es Handlungen giebt, welche auf der aͤuſerſten
Grenze zwiſchen beyden ſchweben, und bey denen wir
ſchlechterdings im Zweifel gelaſſen werden, ob wir die Ein-
faͤltigkeit belachen oder die edle Einfalt hochſchaͤtzen ſollen.
Ein ſehr merkwuͤrdiges Beyſpiel dieſer Art findet man in
der Regierungsgeſchichte des Pabſtes Adrian des
Sechſten
, die uns Herr Schroͤckh mit der ihm eigenen
Gruͤndlichkeit und pragmatiſchen Wahrheit beſchrieben
hat. Dieſer Pabſt, ein Niederlaͤnder von Geburt, ver-
waltete das Pontifikat in einem der kritiſchſten Augenblicke
fuͤr die Hierarchie, wo eine erbitterte Parthey die Bloͤßen
der roͤmiſchen Kirche ohne alle Schonung aufdeckte, und
die Gegenparthey im hoͤchſten Grad intereſſiert war, ſie
zuzudecken. Was der wahrhaft naive Charakter, wenn
ja ein ſolcher ſich auf den Stuhl des heiligen Peters ver-
irrte, in dieſem Falle zu thun hatte iſt keine Frage; wohl
aber wie weit eine ſolche Naivitaͤt der Geſinnung mit der
Rolle eines Pabſtes vertraͤglich ſeyn moͤchte. Dieß war
es uͤbrigens, was die Vorgaͤnger und die Nachfolger Adri-
ans in die geringſte Verlegenheit ſetzte. Mit Gleichfoͤrmig-
keit befolgten ſie das einmal angenommene roͤmiſche Syſtem,
uͤberall nichts einzuraͤumen. Aber Adrian hatte wirklich
den geraden Charakter ſeiner Nation, und die Unſchuld
ſeines ehemaligen Standes. Aus der engen Sphaͤre des
Gelehrten war er zu ſeinem erhabenen Poſten emporge-
ſtiegen, und ſelbſt auf der Hoͤhe ſeiner neuen Wuͤrde je-
nem einfachen Charakter nicht untreu geworden. Die

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[57/0025] an den Hoͤfen der Koͤnige mit einer Ingenuitaͤt und Un- ſchuld, wie man ſie nur in einer Schaͤferwelt findet. Es iſt uͤbrigens gar nicht ſo leicht, die kindiſche Un- ſchuld von der kindlichen immer richtig zu unterſcheiden, indem es Handlungen giebt, welche auf der aͤuſerſten Grenze zwiſchen beyden ſchweben, und bey denen wir ſchlechterdings im Zweifel gelaſſen werden, ob wir die Ein- faͤltigkeit belachen oder die edle Einfalt hochſchaͤtzen ſollen. Ein ſehr merkwuͤrdiges Beyſpiel dieſer Art findet man in der Regierungsgeſchichte des Pabſtes Adrian des Sechſten, die uns Herr Schroͤckh mit der ihm eigenen Gruͤndlichkeit und pragmatiſchen Wahrheit beſchrieben hat. Dieſer Pabſt, ein Niederlaͤnder von Geburt, ver- waltete das Pontifikat in einem der kritiſchſten Augenblicke fuͤr die Hierarchie, wo eine erbitterte Parthey die Bloͤßen der roͤmiſchen Kirche ohne alle Schonung aufdeckte, und die Gegenparthey im hoͤchſten Grad intereſſiert war, ſie zuzudecken. Was der wahrhaft naive Charakter, wenn ja ein ſolcher ſich auf den Stuhl des heiligen Peters ver- irrte, in dieſem Falle zu thun hatte iſt keine Frage; wohl aber wie weit eine ſolche Naivitaͤt der Geſinnung mit der Rolle eines Pabſtes vertraͤglich ſeyn moͤchte. Dieß war es uͤbrigens, was die Vorgaͤnger und die Nachfolger Adri- ans in die geringſte Verlegenheit ſetzte. Mit Gleichfoͤrmig- keit befolgten ſie das einmal angenommene roͤmiſche Syſtem, uͤberall nichts einzuraͤumen. Aber Adrian hatte wirklich den geraden Charakter ſeiner Nation, und die Unſchuld ſeines ehemaligen Standes. Aus der engen Sphaͤre des Gelehrten war er zu ſeinem erhabenen Poſten emporge- ſtiegen, und ſelbſt auf der Hoͤhe ſeiner neuen Wuͤrde je- nem einfachen Charakter nicht untreu geworden. Die

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/25>, abgerufen am 29.03.2024.