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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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nicht durch ihre blinde Gewalt als dynamische, fon-
dern daß sie durch ihre Form als moralische Größe,
kurz daß sie nicht als Nothdurft, sondern als innre
Nothwendigkeit
über die Kunst triumphiere. Nicht
die Unzulänglichkeit sondern die Unstatthaftigkeit
der letztern muß der erstern den Sieg verschaft haben;
denn jene ist Mangel, und nichts, was aus Mangel ent-
springt, kann Achtung erzeugen. Zwar ist es bey dem
Naiven der Ueberraschung immer die Uebermacht des Af-
fekts und ein Mangel an Besinnung, was die Natur
bekennen macht; aber dieser Mangel und jene Ueber-
macht machen das Naive noch gar nicht aus, sondern
geben bloß Gelegenheit, daß die Natur ihrer mora-
lischen Beschaffenheit
, d. h. dem Gesetze der
Uebereinstimmung ungehindert folgt
.

Das Naive der Ueberraschung kann nur dem Men-
schen und zwar dem Menschen nur, insofern er in diesem
Augenblicke nicht mehr reine und unschuldige Natur ist,
zukommen. Es setzt einen Willen voraus, der mit dem was

bertragung von dem Menschen auf das Vernunftlose ent-
stehet. Niemand wird den Anblick naiv finden, wenn in
einem Garten, der schlecht gewartet wird, das Unkraut
überhand nimmt, aber es hat allerdings etwas naives, wenn
der freye Wuchs hervorstrebender Aeste das mühselige Werk
der Scheere in einem französischen Garten vernichtet. So
ist es ganz und gar nicht naiv, wenn ein geschultes Pferd
aus natürlicher Plumpheit seine Lection schlecht macht,
aber es hat etwas vom Naiven, wenn es dieselbe aus na-
türlicher Freyheit vergißt.

nicht durch ihre blinde Gewalt als dynamiſche, fon-
dern daß ſie durch ihre Form als moraliſche Groͤße,
kurz daß ſie nicht als Nothdurft, ſondern als innre
Nothwendigkeit
uͤber die Kunſt triumphiere. Nicht
die Unzulaͤnglichkeit ſondern die Unſtatthaftigkeit
der letztern muß der erſtern den Sieg verſchaft haben;
denn jene iſt Mangel, und nichts, was aus Mangel ent-
ſpringt, kann Achtung erzeugen. Zwar iſt es bey dem
Naiven der Ueberraſchung immer die Uebermacht des Af-
fekts und ein Mangel an Beſinnung, was die Natur
bekennen macht; aber dieſer Mangel und jene Ueber-
macht machen das Naive noch gar nicht aus, ſondern
geben bloß Gelegenheit, daß die Natur ihrer mora-
liſchen Beſchaffenheit
, d. h. dem Geſetze der
Uebereinſtimmung ungehindert folgt
.

Das Naive der Ueberraſchung kann nur dem Men-
ſchen und zwar dem Menſchen nur, inſofern er in dieſem
Augenblicke nicht mehr reine und unſchuldige Natur iſt,
zukommen. Es ſetzt einen Willen voraus, der mit dem was

bertragung von dem Menſchen auf das Vernunftloſe ent-
ſtehet. Niemand wird den Anblick naiv finden, wenn in
einem Garten, der ſchlecht gewartet wird, das Unkraut
uͤberhand nimmt, aber es hat allerdings etwas naives, wenn
der freye Wuchs hervorſtrebender Aeſte das muͤhſelige Werk
der Scheere in einem franzoͤſiſchen Garten vernichtet. So
iſt es ganz und gar nicht naiv, wenn ein geſchultes Pferd
aus natuͤrlicher Plumpheit ſeine Lection ſchlecht macht,
aber es hat etwas vom Naiven, wenn es dieſelbe aus na-
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[53/0021] nicht durch ihre blinde Gewalt als dynamiſche, fon- dern daß ſie durch ihre Form als moraliſche Groͤße, kurz daß ſie nicht als Nothdurft, ſondern als innre Nothwendigkeit uͤber die Kunſt triumphiere. Nicht die Unzulaͤnglichkeit ſondern die Unſtatthaftigkeit der letztern muß der erſtern den Sieg verſchaft haben; denn jene iſt Mangel, und nichts, was aus Mangel ent- ſpringt, kann Achtung erzeugen. Zwar iſt es bey dem Naiven der Ueberraſchung immer die Uebermacht des Af- fekts und ein Mangel an Beſinnung, was die Natur bekennen macht; aber dieſer Mangel und jene Ueber- macht machen das Naive noch gar nicht aus, ſondern geben bloß Gelegenheit, daß die Natur ihrer mora- liſchen Beſchaffenheit, d. h. dem Geſetze der Uebereinſtimmung ungehindert folgt. Das Naive der Ueberraſchung kann nur dem Men- ſchen und zwar dem Menſchen nur, inſofern er in dieſem Augenblicke nicht mehr reine und unſchuldige Natur iſt, zukommen. Es ſetzt einen Willen voraus, der mit dem was * * bertragung von dem Menſchen auf das Vernunftloſe ent- ſtehet. Niemand wird den Anblick naiv finden, wenn in einem Garten, der ſchlecht gewartet wird, das Unkraut uͤberhand nimmt, aber es hat allerdings etwas naives, wenn der freye Wuchs hervorſtrebender Aeſte das muͤhſelige Werk der Scheere in einem franzoͤſiſchen Garten vernichtet. So iſt es ganz und gar nicht naiv, wenn ein geſchultes Pferd aus natuͤrlicher Plumpheit ſeine Lection ſchlecht macht, aber es hat etwas vom Naiven, wenn es dieſelbe aus na- tuͤrlicher Freyheit vergißt.

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/21>, abgerufen am 23.04.2024.