Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789.Eines Abends, als wir nach Gewohnheit in Stille.
Eines Abends, als wir nach Gewohnheit in Stille.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0014" n="6"/> <p>Eines Abends, als wir nach Gewohnheit in<lb/> tiefer Maſke und abgeſondert, auf dem Platze St.<lb/> Markus ſpazieren giengen — es fing an ſpät zu<lb/> werden, und das Gedränge hatte ſich verloren —<lb/> bemerkte der Prinz, daß eine Maſke uns überall<lb/> folgte. Die Maſke war ein Armenier und ging al¬<lb/> lein. Wir beſchleunigten unſere Schritte und<lb/> ſuchten ſie durch öftere Veränderung unſeres We¬<lb/> ges irre zu machen — umſonſt, die Maſke blieb<lb/> immer dicht hinter uns. „Sie haben doch keine<lb/> Intrigue hier gehabt? ſagte endlich der Prinz zu<lb/> mir. Die Ehemänner in Venedig ſind gefährlich.“<lb/> — Ich kenne keine einzige Dame, gab ich zur<lb/> Antwort. „Laſſen Sie uns hier niederſetzen und<lb/> deutſch ſprechen, fuhr er fort. Ich bilde mir ein,<lb/> man verkennt uns.“ Wir ſezten uns auf eine ſtei¬<lb/> nerne Bank und erwarteten, daß die Maſke vor¬<lb/> über gehen ſollte. Sie kam gerade auf uns zu,<lb/> und nahm ihren Platz dicht an der Seite des Prin¬<lb/> zen Er zog die Uhr heraus und ſagte mir laut<lb/> auf franzöſiſch, indem er aufſtund: „Neun Uhr<lb/> vorbey. Kommen Sie. Wir vergeſſen, daß man<lb/> uns im Louvre erwartet.“ Dieß erdichtete er nur,<lb/> um die Maſke von unſerer Spur zu entfernen.<lb/> „<hi rendition="#g">Neun Uhr</hi>“ wiederholte ſie in eben der Spra¬<lb/> che nachdrücklich und langſam. „Wünſchen Sie<lb/> ſich Glück, Prinz (indem ſie ihn bey ſeinem wah¬<lb/> ren Namen nannte). <hi rendition="#g">Um neun Uhr iſt er<lb/> geſtorben</hi>.“ — Damit ſtand ſie auf und ging.<lb/> Wir ſahen uns beſtürzt an. — „Wer iſt geſtor¬<lb/> ben?“ ſagte endlich der Prinz nach einer langen<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Stille.<lb/></fw> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [6/0014]
Eines Abends, als wir nach Gewohnheit in
tiefer Maſke und abgeſondert, auf dem Platze St.
Markus ſpazieren giengen — es fing an ſpät zu
werden, und das Gedränge hatte ſich verloren —
bemerkte der Prinz, daß eine Maſke uns überall
folgte. Die Maſke war ein Armenier und ging al¬
lein. Wir beſchleunigten unſere Schritte und
ſuchten ſie durch öftere Veränderung unſeres We¬
ges irre zu machen — umſonſt, die Maſke blieb
immer dicht hinter uns. „Sie haben doch keine
Intrigue hier gehabt? ſagte endlich der Prinz zu
mir. Die Ehemänner in Venedig ſind gefährlich.“
— Ich kenne keine einzige Dame, gab ich zur
Antwort. „Laſſen Sie uns hier niederſetzen und
deutſch ſprechen, fuhr er fort. Ich bilde mir ein,
man verkennt uns.“ Wir ſezten uns auf eine ſtei¬
nerne Bank und erwarteten, daß die Maſke vor¬
über gehen ſollte. Sie kam gerade auf uns zu,
und nahm ihren Platz dicht an der Seite des Prin¬
zen Er zog die Uhr heraus und ſagte mir laut
auf franzöſiſch, indem er aufſtund: „Neun Uhr
vorbey. Kommen Sie. Wir vergeſſen, daß man
uns im Louvre erwartet.“ Dieß erdichtete er nur,
um die Maſke von unſerer Spur zu entfernen.
„Neun Uhr“ wiederholte ſie in eben der Spra¬
che nachdrücklich und langſam. „Wünſchen Sie
ſich Glück, Prinz (indem ſie ihn bey ſeinem wah¬
ren Namen nannte). Um neun Uhr iſt er
geſtorben.“ — Damit ſtand ſie auf und ging.
Wir ſahen uns beſtürzt an. — „Wer iſt geſtor¬
ben?“ ſagte endlich der Prinz nach einer langen
Stille.
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