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Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789.

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Prinzen von ** in Venedig besuchte. Wir hatten uns
in **schen Kriegsdiensten kennen lernen, und er¬
neuerten hier eine Bekanntschaft, die der Friede
unterbrochen hatte. Weil ich ohnedies wünschte,
das Merkwürdige dieser Stadt zu sehen, und der
Prinz nur noch Wechsel erwartete, um nach **
zurück zu reisen, so beredete er mich leicht, ihm
Gesellschaft zu leisten, und meine Abreise so lange
zu verschieben. Wir kamen überein uns nicht von
einander zu trennen, so lange unser Aufenthalt in
Venedig dauern würde, und der Prinz war so ge¬
fällig, mir seine eigene Wohnung im Mohren an¬
zubieten.

Er lebte hier unter dem strengsten Incognito, weil
er sich selbst leben wollte, und seine geringe Apa¬
nage ihm auch nicht verstattet hätte, die Hoheit sei¬
nes Rangs zu behaupten. Zwey Kavaliere, auf
deren Verschwiegenheit er sich vollkommen verlas¬
sen konnte, waren nebst einigen treuen Bedienten
sein ganzes Gefolge. Den Aufwand vermied er
mehr aus Temperament als aus Sparsamkeit. Er
floh die Vergnügungen; bis zu seinem fünf und
dreyßigsten Jahre hatte er allen Reizungen dieser
wollüstigen Stadt widerstanden. Das schöne Ge¬
schlecht war ihm gleichgültig. Tiefer Ernst und eine
schwärmerische Melancholie herrschte in seiner Ge¬
müthsart. Seine Neigungen waren still, aber
hartnäckig bis zum Uebermaaß, seine Wahl lang¬
sam und schüchtern, seine Anhänglichkeit warm und
ewig; mitten in einem geräuschvollen Gewühle von
Menschen ging er einsam. In seine eigene Phan¬

tasien¬

Prinzen von ** in Venedig beſuchte. Wir hatten uns
in **ſchen Kriegsdienſten kennen lernen, und er¬
neuerten hier eine Bekanntſchaft, die der Friede
unterbrochen hatte. Weil ich ohnedies wünſchte,
das Merkwürdige dieſer Stadt zu ſehen, und der
Prinz nur noch Wechſel erwartete, um nach **
zurück zu reiſen, ſo beredete er mich leicht, ihm
Geſellſchaft zu leiſten, und meine Abreiſe ſo lange
zu verſchieben. Wir kamen überein uns nicht von
einander zu trennen, ſo lange unſer Aufenthalt in
Venedig dauern würde, und der Prinz war ſo ge¬
fällig, mir ſeine eigene Wohnung im Mohren an¬
zubieten.

Er lebte hier unter dem ſtrengſten Incognito, weil
er ſich ſelbſt leben wollte, und ſeine geringe Apa¬
nage ihm auch nicht verſtattet hätte, die Hoheit ſei¬
nes Rangs zu behaupten. Zwey Kavaliere, auf
deren Verſchwiegenheit er ſich vollkommen verlaſ¬
ſen konnte, waren nebſt einigen treuen Bedienten
ſein ganzes Gefolge. Den Aufwand vermied er
mehr aus Temperament als aus Sparſamkeit. Er
floh die Vergnügungen; bis zu ſeinem fünf und
dreyßigſten Jahre hatte er allen Reizungen dieſer
wollüſtigen Stadt widerſtanden. Das ſchöne Ge¬
ſchlecht war ihm gleichgültig. Tiefer Ernſt und eine
ſchwärmeriſche Melancholie herrſchte in ſeiner Ge¬
müthsart. Seine Neigungen waren ſtill, aber
hartnäckig bis zum Uebermaaß, ſeine Wahl lang¬
ſam und ſchüchtern, ſeine Anhänglichkeit warm und
ewig; mitten in einem geräuſchvollen Gewühle von
Menſchen ging er einſam. In ſeine eigene Phan¬

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[4/0012] Prinzen von ** in Venedig beſuchte. Wir hatten uns in **ſchen Kriegsdienſten kennen lernen, und er¬ neuerten hier eine Bekanntſchaft, die der Friede unterbrochen hatte. Weil ich ohnedies wünſchte, das Merkwürdige dieſer Stadt zu ſehen, und der Prinz nur noch Wechſel erwartete, um nach ** zurück zu reiſen, ſo beredete er mich leicht, ihm Geſellſchaft zu leiſten, und meine Abreiſe ſo lange zu verſchieben. Wir kamen überein uns nicht von einander zu trennen, ſo lange unſer Aufenthalt in Venedig dauern würde, und der Prinz war ſo ge¬ fällig, mir ſeine eigene Wohnung im Mohren an¬ zubieten. Er lebte hier unter dem ſtrengſten Incognito, weil er ſich ſelbſt leben wollte, und ſeine geringe Apa¬ nage ihm auch nicht verſtattet hätte, die Hoheit ſei¬ nes Rangs zu behaupten. Zwey Kavaliere, auf deren Verſchwiegenheit er ſich vollkommen verlaſ¬ ſen konnte, waren nebſt einigen treuen Bedienten ſein ganzes Gefolge. Den Aufwand vermied er mehr aus Temperament als aus Sparſamkeit. Er floh die Vergnügungen; bis zu ſeinem fünf und dreyßigſten Jahre hatte er allen Reizungen dieſer wollüſtigen Stadt widerſtanden. Das ſchöne Ge¬ ſchlecht war ihm gleichgültig. Tiefer Ernſt und eine ſchwärmeriſche Melancholie herrſchte in ſeiner Ge¬ müthsart. Seine Neigungen waren ſtill, aber hartnäckig bis zum Uebermaaß, ſeine Wahl lang¬ ſam und ſchüchtern, ſeine Anhänglichkeit warm und ewig; mitten in einem geräuſchvollen Gewühle von Menſchen ging er einſam. In ſeine eigene Phan¬ taſien¬

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/12>, abgerufen am 27.11.2024.