Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48.der alte Mythus die Göttinn der Weisheit in voller Rüstung aus Jupiters Haupte steigen; denn schon ihre erste Verrichtung ist kriegerisch. Schon in der Geburt hat sie einen harten Kampf mit den Sinnen zu bestehen, die aus ihrer süssen Ruhe nicht gerissen seyn wollen. Der zahlreichere Theil der Menschen wird durch den Kampf mit der Noth viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem neuen und härtern Kampf mit dem Irrthum aufraffen sollte. Zufrieden, wenn er selbst der sauren Mühe des Denkens entgeht, läßt er Andere gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen, und geschieht es, daß sich höhere Bedürfnisse in ihm regen, so ergreift er mit durstigem Glauben die Formeln, welche der Staat und das Priesterthum für diesen Fall in Bereitschaft halten. Wenn diese unglückliche Menschen unser Mitleiden verdienen, so trift unsere gerechte Verachtung die andern, die ein besseres Loos von dem Joch der Bedürfnisse frey macht, aber eigene Wahl darunter beugt. Diese ziehen den Dämmerschein dunkler Begriffe, wo man lebhafter fühlt und die Phantasie sich nach eignem Belieben bequeme Gestalten bildet, den Strahlen der Wahrheit vor, die das angenehme Blendwerk ihrer Träume verjagen. Auf eben diese Täuschungen, die das feindselige Licht der Erkenntniß zerstreuen soll, haben sie den ganzen Bau ihres Glücks gegründet, und sie sollten eine Wahrheit so theuer kaufen, die damit anfängt, ihnen alles zu nehmen, was Werth für sie besitzt. Sie müßten schon weise seyn, um die Weisheit zu lieben: eine Wahrheit, die derjenige schon fühlte, der der Philosophie ihren Nahmen gab. Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charak- der alte Mythus die Göttinn der Weisheit in voller Rüstung aus Jupiters Haupte steigen; denn schon ihre erste Verrichtung ist kriegerisch. Schon in der Geburt hat sie einen harten Kampf mit den Sinnen zu bestehen, die aus ihrer süssen Ruhe nicht gerissen seyn wollen. Der zahlreichere Theil der Menschen wird durch den Kampf mit der Noth viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem neuen und härtern Kampf mit dem Irrthum aufraffen sollte. Zufrieden, wenn er selbst der sauren Mühe des Denkens entgeht, läßt er Andere gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen, und geschieht es, daß sich höhere Bedürfnisse in ihm regen, so ergreift er mit durstigem Glauben die Formeln, welche der Staat und das Priesterthum für diesen Fall in Bereitschaft halten. Wenn diese unglückliche Menschen unser Mitleiden verdienen, so trift unsere gerechte Verachtung die andern, die ein besseres Loos von dem Joch der Bedürfnisse frey macht, aber eigene Wahl darunter beugt. Diese ziehen den Dämmerschein dunkler Begriffe, wo man lebhafter fühlt und die Phantasie sich nach eignem Belieben bequeme Gestalten bildet, den Strahlen der Wahrheit vor, die das angenehme Blendwerk ihrer Träume verjagen. Auf eben diese Täuschungen, die das feindselige Licht der Erkenntniß zerstreuen soll, haben sie den ganzen Bau ihres Glücks gegründet, und sie sollten eine Wahrheit so theuer kaufen, die damit anfängt, ihnen alles zu nehmen, was Werth für sie besitzt. Sie müßten schon weise seyn, um die Weisheit zu lieben: eine Wahrheit, die derjenige schon fühlte, der der Philosophie ihren Nahmen gab. Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charak- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0035" n="41"/> der alte Mythus die Göttinn der Weisheit in voller Rüstung aus Jupiters Haupte steigen; denn schon ihre erste Verrichtung ist kriegerisch. Schon in der Geburt hat sie einen harten Kampf mit den Sinnen zu bestehen, die aus ihrer süssen Ruhe nicht gerissen seyn wollen. Der zahlreichere Theil der Menschen wird durch den Kampf mit der Noth viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem neuen und härtern Kampf mit dem Irrthum aufraffen sollte. Zufrieden, wenn er selbst der sauren Mühe des Denkens entgeht, läßt er Andere gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen, und geschieht es, daß sich höhere Bedürfnisse in ihm regen, so ergreift er mit durstigem Glauben die Formeln, welche der Staat und das Priesterthum für diesen Fall in Bereitschaft halten. Wenn diese unglückliche Menschen unser Mitleiden verdienen, so trift unsere gerechte Verachtung die andern, die ein besseres Loos von dem Joch der Bedürfnisse frey macht, aber eigene Wahl darunter beugt. Diese ziehen den Dämmerschein dunkler Begriffe, wo man lebhafter fühlt und die Phantasie sich nach eignem Belieben bequeme Gestalten bildet, den Strahlen der Wahrheit vor, die das angenehme Blendwerk ihrer Träume verjagen. Auf eben diese Täuschungen, die das feindselige Licht der Erkenntniß zerstreuen soll, haben sie den ganzen Bau ihres Glücks gegründet, und sie sollten eine Wahrheit so theuer kaufen, die damit anfängt, ihnen alles zu nehmen, was Werth für sie besitzt. Sie müßten schon weise seyn, um die Weisheit zu lieben: eine Wahrheit, die derjenige schon fühlte, der der Philosophie ihren Nahmen gab.</p> <p>Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charak- </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [41/0035]
der alte Mythus die Göttinn der Weisheit in voller Rüstung aus Jupiters Haupte steigen; denn schon ihre erste Verrichtung ist kriegerisch. Schon in der Geburt hat sie einen harten Kampf mit den Sinnen zu bestehen, die aus ihrer süssen Ruhe nicht gerissen seyn wollen. Der zahlreichere Theil der Menschen wird durch den Kampf mit der Noth viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem neuen und härtern Kampf mit dem Irrthum aufraffen sollte. Zufrieden, wenn er selbst der sauren Mühe des Denkens entgeht, läßt er Andere gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen, und geschieht es, daß sich höhere Bedürfnisse in ihm regen, so ergreift er mit durstigem Glauben die Formeln, welche der Staat und das Priesterthum für diesen Fall in Bereitschaft halten. Wenn diese unglückliche Menschen unser Mitleiden verdienen, so trift unsere gerechte Verachtung die andern, die ein besseres Loos von dem Joch der Bedürfnisse frey macht, aber eigene Wahl darunter beugt. Diese ziehen den Dämmerschein dunkler Begriffe, wo man lebhafter fühlt und die Phantasie sich nach eignem Belieben bequeme Gestalten bildet, den Strahlen der Wahrheit vor, die das angenehme Blendwerk ihrer Träume verjagen. Auf eben diese Täuschungen, die das feindselige Licht der Erkenntniß zerstreuen soll, haben sie den ganzen Bau ihres Glücks gegründet, und sie sollten eine Wahrheit so theuer kaufen, die damit anfängt, ihnen alles zu nehmen, was Werth für sie besitzt. Sie müßten schon weise seyn, um die Weisheit zu lieben: eine Wahrheit, die derjenige schon fühlte, der der Philosophie ihren Nahmen gab.
Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charak-
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Zitationshilfe: | Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48, hier S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/35>, abgerufen am 16.07.2024. |