Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48.Achter Brief. Soll sich also die Philosophie, muthlos und ohne Hofnung, aus diesem Gebiete zurückziehen? Während daß sich die Herrschaft der Formen nach jeder andern Richtung erweitert, soll dieses wichtigste aller Güter dem gestaltlosen Zufall Preiß gegeben seyn? Der Konflikt blinder Kräfte soll in der politischen Welt ewig dauern, und das gesellige Gesetz nie über die feindselige Selbstsucht siegen? Nichtsweniger! Die Vernunft selbst wird zwar mit dieser rauhen Macht, die ihren Waffen widersteht, unmittelbar den Kampf nicht versuchen, und so wenig als der Sohn des Saturns in der Ilias, selbsthandelnd auf den finstern Schauplatz heruntersteigen. Aber aus der Mitte der Streiter wählt sie sich den würdigsten aus, bekleidet ihn wie Zeus seinen Enkel mit göttlichen Waffen, und bewirkt durch seine siegende Kraft die grosse Entscheidung. Die Vernunft hat geleistet, was sie leisten kann, wenn sie das Gesetz findet und aufstellt; vollstrecken muß es der muthige Wille, und das lebendige Gefühl. Wenn die Wahrheit im Streit mit Kräften den Sieg erhalten soll, so muß sie selbst erst zur Kraft werden, und zu ihrem Sachführer im Reich der Erscheinungen einen Trieb aufstellen; denn Triebe sind die einzigen bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt. Hat sie bis jetzt ihre siegende Kraft noch so wenig bewiesen, so liegt dieß nicht an dem Verstande, der sie nicht zu entschleyern wuß- Achter Brief. Soll sich also die Philosophie, muthlos und ohne Hofnung, aus diesem Gebiete zurückziehen? Während daß sich die Herrschaft der Formen nach jeder andern Richtung erweitert, soll dieses wichtigste aller Güter dem gestaltlosen Zufall Preiß gegeben seyn? Der Konflikt blinder Kräfte soll in der politischen Welt ewig dauern, und das gesellige Gesetz nie über die feindselige Selbstsucht siegen? Nichtsweniger! Die Vernunft selbst wird zwar mit dieser rauhen Macht, die ihren Waffen widersteht, unmittelbar den Kampf nicht versuchen, und so wenig als der Sohn des Saturns in der Ilias, selbsthandelnd auf den finstern Schauplatz heruntersteigen. Aber aus der Mitte der Streiter wählt sie sich den würdigsten aus, bekleidet ihn wie Zeus seinen Enkel mit göttlichen Waffen, und bewirkt durch seine siegende Kraft die grosse Entscheidung. Die Vernunft hat geleistet, was sie leisten kann, wenn sie das Gesetz findet und aufstellt; vollstrecken muß es der muthige Wille, und das lebendige Gefühl. Wenn die Wahrheit im Streit mit Kräften den Sieg erhalten soll, so muß sie selbst erst zur Kraft werden, und zu ihrem Sachführer im Reich der Erscheinungen einen Trieb aufstellen; denn Triebe sind die einzigen bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt. Hat sie bis jetzt ihre siegende Kraft noch so wenig bewiesen, so liegt dieß nicht an dem Verstande, der sie nicht zu entschleyern wuß- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0033" n="39"/> <head> <hi rendition="#g">Achter Brief.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">S</hi>oll sich also die Philosophie, muthlos und ohne Hofnung, aus diesem Gebiete zurückziehen? Während daß sich die Herrschaft der Formen nach jeder andern Richtung erweitert, soll dieses wichtigste aller Güter dem gestaltlosen Zufall Preiß gegeben seyn? Der Konflikt blinder Kräfte soll in der politischen Welt ewig dauern, und das gesellige Gesetz nie über die feindselige Selbstsucht siegen?</p> <p>Nichtsweniger! Die Vernunft selbst wird zwar mit dieser rauhen Macht, die ihren Waffen widersteht, unmittelbar den Kampf nicht versuchen, und so wenig als der Sohn des Saturns in der Ilias, selbsthandelnd auf den finstern Schauplatz heruntersteigen. Aber aus der Mitte der Streiter wählt sie sich den würdigsten aus, bekleidet ihn wie Zeus seinen Enkel mit göttlichen Waffen, und bewirkt durch seine siegende Kraft die grosse Entscheidung.</p> <p>Die Vernunft hat geleistet, was sie leisten kann, wenn sie das Gesetz findet und aufstellt; vollstrecken muß es der muthige Wille, und das lebendige Gefühl. Wenn die Wahrheit im Streit mit Kräften den Sieg erhalten soll, so muß sie selbst erst zur <hi rendition="#g">Kraft</hi> werden, und zu ihrem Sachführer im Reich der Erscheinungen einen <hi rendition="#g">Trieb</hi> aufstellen; denn Triebe sind die einzigen bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt. Hat sie bis jetzt ihre siegende Kraft noch so wenig bewiesen, so liegt dieß nicht an dem Verstande, der sie nicht zu entschleyern wuß- </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [39/0033]
Achter Brief.
Soll sich also die Philosophie, muthlos und ohne Hofnung, aus diesem Gebiete zurückziehen? Während daß sich die Herrschaft der Formen nach jeder andern Richtung erweitert, soll dieses wichtigste aller Güter dem gestaltlosen Zufall Preiß gegeben seyn? Der Konflikt blinder Kräfte soll in der politischen Welt ewig dauern, und das gesellige Gesetz nie über die feindselige Selbstsucht siegen?
Nichtsweniger! Die Vernunft selbst wird zwar mit dieser rauhen Macht, die ihren Waffen widersteht, unmittelbar den Kampf nicht versuchen, und so wenig als der Sohn des Saturns in der Ilias, selbsthandelnd auf den finstern Schauplatz heruntersteigen. Aber aus der Mitte der Streiter wählt sie sich den würdigsten aus, bekleidet ihn wie Zeus seinen Enkel mit göttlichen Waffen, und bewirkt durch seine siegende Kraft die grosse Entscheidung.
Die Vernunft hat geleistet, was sie leisten kann, wenn sie das Gesetz findet und aufstellt; vollstrecken muß es der muthige Wille, und das lebendige Gefühl. Wenn die Wahrheit im Streit mit Kräften den Sieg erhalten soll, so muß sie selbst erst zur Kraft werden, und zu ihrem Sachführer im Reich der Erscheinungen einen Trieb aufstellen; denn Triebe sind die einzigen bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt. Hat sie bis jetzt ihre siegende Kraft noch so wenig bewiesen, so liegt dieß nicht an dem Verstande, der sie nicht zu entschleyern wuß-
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Zitationshilfe: | Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48, hier S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/33>, abgerufen am 16.07.2024. |