Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_076.001 Warum greifen wir zu einem Roman? Warum gehen psc_076.005 psc_076.001 Warum greifen wir zu einem Roman? Warum gehen psc_076.005 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0092" n="76"/><lb n="psc_076.001"/> wir die anscheinende Trivialität nicht. Nichts schlimmer, <lb n="psc_076.002"/> als die Angst vor Trivialität und das unnöthige Suchen nach <lb n="psc_076.003"/> Tiefsinn.</p> <lb n="psc_076.004"/> <p> Warum greifen wir zu einem Roman? Warum gehen <lb n="psc_076.005"/> wir ins Theater? Um uns zu unterhalten. Dies Element <lb n="psc_076.006"/> darf nicht vernachlässigt werden. Warum greift man wohl <lb n="psc_076.007"/> bei längerem Zusammensein nach einem Band Gedichte und <lb n="psc_076.008"/> liest ein paar vor? Um der Conversation neuen Stoff zu <lb n="psc_076.009"/> geben oder, wo die eigene Kraft nicht ausreicht und etwa <lb n="psc_076.010"/> Langeweile entstehen würde, diese zu verscheuchen: wieder das <lb n="psc_076.011"/> Element der Unterhaltung. Wer eine Reise übers Meer, ans <lb n="psc_076.012"/> Meeresufer, auf eine Jnsel unternimmt, führt wohl die <lb n="psc_076.013"/> Odyssee mit sich — nicht als ein Object des Lernens, um <lb n="psc_076.014"/> die homerischen Darstellungen mit der Wirklichkeit zu vergleichen, <lb n="psc_076.015"/> sondern um eine leere Stunde damit auszufüllen, <lb n="psc_076.016"/> die Elemente des Vergnügens in seiner Reiseexistenz zu verstärken <lb n="psc_076.017"/> — freilich auch mit Rücksicht auf die Harmonie zwischen <lb n="psc_076.018"/> der Wirklichkeit, die ihn umgiebt, und der Dichtkunst; <lb n="psc_076.019"/> aber diese Freude an der Richtigkeit der Darstellung und <lb n="psc_076.020"/> Nachahmung ist nur Ein Motiv dabei. Ein anderes z. B. <lb n="psc_076.021"/> die Schärfung des Blicks für die Wirklichkeit: sein Laienauge <lb n="psc_076.022"/> bewaffnet sich gleichsam mit dem Mikroskop eines <lb n="psc_076.023"/> Künstlerauges; ein drittes die Belebung der Wirklichkeit <lb n="psc_076.024"/> mit Gestalten der Dichtung, die sich nun stärker und lebendiger <lb n="psc_076.025"/> anknüpfen — also Steigerung des Vergnügens an der <lb n="psc_076.026"/> Wirklichkeit. Die Poesie schmückt diese Wirklichkeit (vgl. z. B. <lb n="psc_076.027"/> wie Roßmann, Vom Gestade der Kyklopen und Sirenen, <lb n="psc_076.028"/> die betreffende Poesie mittheilt).</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [76/0092]
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wir die anscheinende Trivialität nicht. Nichts schlimmer, psc_076.002
als die Angst vor Trivialität und das unnöthige Suchen nach psc_076.003
Tiefsinn.
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Warum greifen wir zu einem Roman? Warum gehen psc_076.005
wir ins Theater? Um uns zu unterhalten. Dies Element psc_076.006
darf nicht vernachlässigt werden. Warum greift man wohl psc_076.007
bei längerem Zusammensein nach einem Band Gedichte und psc_076.008
liest ein paar vor? Um der Conversation neuen Stoff zu psc_076.009
geben oder, wo die eigene Kraft nicht ausreicht und etwa psc_076.010
Langeweile entstehen würde, diese zu verscheuchen: wieder das psc_076.011
Element der Unterhaltung. Wer eine Reise übers Meer, ans psc_076.012
Meeresufer, auf eine Jnsel unternimmt, führt wohl die psc_076.013
Odyssee mit sich — nicht als ein Object des Lernens, um psc_076.014
die homerischen Darstellungen mit der Wirklichkeit zu vergleichen, psc_076.015
sondern um eine leere Stunde damit auszufüllen, psc_076.016
die Elemente des Vergnügens in seiner Reiseexistenz zu verstärken psc_076.017
— freilich auch mit Rücksicht auf die Harmonie zwischen psc_076.018
der Wirklichkeit, die ihn umgiebt, und der Dichtkunst; psc_076.019
aber diese Freude an der Richtigkeit der Darstellung und psc_076.020
Nachahmung ist nur Ein Motiv dabei. Ein anderes z. B. psc_076.021
die Schärfung des Blicks für die Wirklichkeit: sein Laienauge psc_076.022
bewaffnet sich gleichsam mit dem Mikroskop eines psc_076.023
Künstlerauges; ein drittes die Belebung der Wirklichkeit psc_076.024
mit Gestalten der Dichtung, die sich nun stärker und lebendiger psc_076.025
anknüpfen — also Steigerung des Vergnügens an der psc_076.026
Wirklichkeit. Die Poesie schmückt diese Wirklichkeit (vgl. z. B. psc_076.027
wie Roßmann, Vom Gestade der Kyklopen und Sirenen, psc_076.028
die betreffende Poesie mittheilt).
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