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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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für sich. Es war wohl niemand so voller Poesie wie psc_031.002
Jacob Grimm; und dennoch wird niemand von seinen psc_031.003
grundlegenden Werken behaupten, daß sie poetische Werke psc_031.004
seien -- bei aller Kunst der Darstellung. So ist auch die psc_031.005
philologische Anmerkung wieder eine Kunstform für sich, psc_031.006
deren äußerste Präcision und Knappheit Karl Lachmann erreicht psc_031.007
hat. Untersuchungen wie die Lessings haben eine bestimmte psc_031.008
Kunstform und sind dennoch keine Poesie.

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Jn der Geschichtschreibung finden sich epische Elemente, in psc_031.010
der Naturwissenschaft Naturschilderungen u. s. w.; das Extrem psc_031.011
aber ist von der Poesie weit entfernt: Mathematik. Ganz psc_031.012
ebenso nähern sich z. B. griechische Predigten aus dem vierten psc_031.013
Jahrhundert durch ihre Naturkraft der Poesie. Und die psc_031.014
Poetik muß sie dennoch ausschließen. Aber eine umfassende psc_031.015
Redekunst müßte das alles berücksichtigen.

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Die schwierigste Frage bleibt also allemal, was von der psc_031.017
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Dieselben Schwierigkeiten der Abgrenzung sind immer psc_031.019
bei der Litteraturgeschichte vorhanden, welche in Wahrheit psc_031.020
sehr selten die ganze Litteratur oder auch nur die Producte psc_031.021
der Nation auf dem Gebiete der Kunst der Rede umfaßt. psc_031.022
Vielmehr verläuft sie sich auf dem Gebiete der ungebundenen psc_031.023
Rede gegen die Wissenschaft hin.

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Die Wissenschaft und was uns mehr praktisches Bedürfniß psc_031.025
scheint ohne Anspruch auf künstlerische Wirkung, auf psc_031.026
Anregung der Phantasie -- das ist ausgeschlossen.

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Während für Lyrik, Epik, Dramatik die gebundene und psc_031.028
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Jacob Grimm; und dennoch wird niemand von seinen psc_031.003
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Kunstform und sind dennoch keine Poesie.

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  Jn der Geschichtschreibung finden sich epische Elemente, in psc_031.010
der Naturwissenschaft Naturschilderungen u. s. w.; das Extrem psc_031.011
aber ist von der Poesie weit entfernt: Mathematik. Ganz psc_031.012
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Redekunst müßte das alles berücksichtigen.

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  Die schwierigste Frage bleibt also allemal, was von der psc_031.017
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sehr selten die ganze Litteratur oder auch nur die Producte psc_031.021
der Nation auf dem Gebiete der Kunst der Rede umfaßt. psc_031.022
Vielmehr verläuft sie sich auf dem Gebiete der ungebundenen psc_031.023
Rede gegen die Wissenschaft hin.

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scheint ohne Anspruch auf künstlerische Wirkung, auf psc_031.026
Anregung der Phantasie — das ist ausgeschlossen.

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/47>, abgerufen am 28.03.2024.