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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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herausarbeitete. Jene allgemeine Sprechweise war gleichsam psc_022.002
bloß die Tonlage, das Jnstrument: man kam schon durch die psc_022.003
Verwunderung in eine ganz andere Regung. Hier also psc_022.004
war diese Art zu lesen berechtigt. Leider weiß ich nicht, psc_022.005
ob Geibel diese Vortragsart sich erfunden hat oder ob er psc_022.006
unter dem Einfluß einer Tradition stand.

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Kehren wir nun zu der Frage zurück, wie weit die ungebundene psc_022.008
Rede uns hier angeht.

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Überblicken wir wieder das historische Material.

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Das Märchen trat uns als uralte Gattung ungebundener psc_022.011
Poesie entgegen. Wir sahen, wie aus der kleinen Prosa= psc_022.012
Erzählung sich die gemischte Erzählung und endlich das psc_022.013
epische Lied entwickelt. Aber es ist hier wie auf dem Gebiete psc_022.014
der gebundenen Poesie: die ursprünglichen Gattungen hören psc_022.015
nicht auf, wenn sich neue daraus entwickelte Gattungen psc_022.016
geltend machen. Die Epoche des Epos bedeutet ein Übergewicht psc_022.017
gebundener Poesie über die ungebundene. Aber psc_022.018
wir dürfen vermuthen, daß die ungebundene immer fortbestand. psc_022.019
So dürfen wir aus allgemeinen Gründen überzeugt sein, psc_022.020
daß selbst in der Zeit, in welcher das germanische Epos psc_022.021
aufkam und die deutsche Poesie beherrschte, daß selbst in der psc_022.022
Zeit der Völkerwanderung das schlichte prosaische Märchen psc_022.023
doch immer noch vorhanden war. Ja es kommt bald die psc_022.024
Zeit, wo mit dem Gebrauch der Schrift ungebundene Rede psc_022.025
überhaupt sich innerhalb der Litteratur geltend macht, wo psc_022.026
eine prosaische Litteratur entsteht und eine wachsende Macht

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herausarbeitete. Jene allgemeine Sprechweise war gleichsam psc_022.002
bloß die Tonlage, das Jnstrument: man kam schon durch die psc_022.003
Verwunderung in eine ganz andere Regung. Hier also psc_022.004
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ob Geibel diese Vortragsart sich erfunden hat oder ob er psc_022.006
unter dem Einfluß einer Tradition stand.

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  Überblicken wir wieder das historische Material.

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Poesie entgegen. Wir sahen, wie aus der kleinen Prosa= psc_022.012
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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/38>, abgerufen am 28.03.2024.