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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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die gewechselt wird, hoch bei freudigen, niedrig bei psc_019.002
düsteren Momenten. Auch die Accente, die durch den Wortsinn psc_019.003
verlangt werden, haben ihre Analogie in der Musik, psc_019.004
in die sie aber mehr aus der Rede, aus dem Sprechvortrag psc_019.005
herübergekommen sind. Dies wäre weiter auszuführen. -- psc_019.006
Eingehend handelt die Rhetorik der Griechen und Römer psc_019.007
vom Vortrag (und Gestus).

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So sind ja in der Declamation noch zahllose Stufen psc_019.009
möglich. Wir sind über die Declamation früherer Zeit sehr psc_019.010
wenig unterrichtet; doch ist auch hier Entwicklung von Gebundenheit psc_019.011
zu Freiheit historisch zu erschließen. Der ältere psc_019.012
Vortrag war vermuthlich sehr eintönig, "singend" (d. h. ungefähr psc_019.013
wie wir uns ein singendes Sprechen denken): der psc_019.014
Rhythmus namentlich wird je weiter zurück, desto stärker psc_019.015
hervorgehoben sein. Später hat sich dann der Vortrag allmälig psc_019.016
immer mehr davon entfernt: immer mehr individuelle psc_019.017
Freiheit, immer mehr Versuch zu charakterisiren in genauem psc_019.018
Anschluß an den Wortton, immer stärker wird die Verführung psc_019.019
den Wortton zu vernachlässigen u. s. w. So läßt psc_019.020
sich eine höchste Stufe in der Freiheit denken, wobei die psc_019.021
Gesammtstimmung als herrschend deutlich zum Ausdruck kommt psc_019.022
und doch jedes Wort charakterisirt wird.

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Dies also ist die höchste Fähigkeit: die Eigenthümlichkeit psc_019.024
jedes Wortes zu wahren, ohne daß die Gesammtstimmung psc_019.025
leidet. Denn es tritt dabei die Gefahr ein des Zerzupfens, psc_019.026
Zerreißens, der Zerstörung der Einheit.

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Wir nach heutiger Geschmacksrichtung sind wohl einig psc_019.028
darin, den möglichsten Anschluß an die Rede des täglichen Lebens

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  So sind ja in der Declamation noch zahllose Stufen psc_019.009
möglich. Wir sind über die Declamation früherer Zeit sehr psc_019.010
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und doch jedes Wort charakterisirt wird.

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Zerreißens, der Zerstörung der Einheit.

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[19/0035] psc_019.001 die gewechselt wird, hoch bei freudigen, niedrig bei psc_019.002 düsteren Momenten. Auch die Accente, die durch den Wortsinn psc_019.003 verlangt werden, haben ihre Analogie in der Musik, psc_019.004 in die sie aber mehr aus der Rede, aus dem Sprechvortrag psc_019.005 herübergekommen sind. Dies wäre weiter auszuführen. — psc_019.006 Eingehend handelt die Rhetorik der Griechen und Römer psc_019.007 vom Vortrag (und Gestus). psc_019.008   So sind ja in der Declamation noch zahllose Stufen psc_019.009 möglich. Wir sind über die Declamation früherer Zeit sehr psc_019.010 wenig unterrichtet; doch ist auch hier Entwicklung von Gebundenheit psc_019.011 zu Freiheit historisch zu erschließen. Der ältere psc_019.012 Vortrag war vermuthlich sehr eintönig, „singend“ (d. h. ungefähr psc_019.013 wie wir uns ein singendes Sprechen denken): der psc_019.014 Rhythmus namentlich wird je weiter zurück, desto stärker psc_019.015 hervorgehoben sein. Später hat sich dann der Vortrag allmälig psc_019.016 immer mehr davon entfernt: immer mehr individuelle psc_019.017 Freiheit, immer mehr Versuch zu charakterisiren in genauem psc_019.018 Anschluß an den Wortton, immer stärker wird die Verführung psc_019.019 den Wortton zu vernachlässigen u. s. w. So läßt psc_019.020 sich eine höchste Stufe in der Freiheit denken, wobei die psc_019.021 Gesammtstimmung als herrschend deutlich zum Ausdruck kommt psc_019.022 und doch jedes Wort charakterisirt wird. psc_019.023   Dies also ist die höchste Fähigkeit: die Eigenthümlichkeit psc_019.024 jedes Wortes zu wahren, ohne daß die Gesammtstimmung psc_019.025 leidet. Denn es tritt dabei die Gefahr ein des Zerzupfens, psc_019.026 Zerreißens, der Zerstörung der Einheit. psc_019.027   Wir nach heutiger Geschmacksrichtung sind wohl einig psc_019.028 darin, den möglichsten Anschluß an die Rede des täglichen Lebens

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/35>, abgerufen am 29.03.2024.