Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite
psc_015.001

Diese Form der gemischten Erzählung ist erst die Vorstufe psc_015.002
einer Form, die ganz in gebundener Rede sich bewegt. psc_015.003
Dies Epos in gebundener Rede hatte jedenfalls keine psc_015.004
Spur von Tanz und dennoch einen festen Rhythmus. Freilich psc_015.005
in einem Punct ist es weniger gebunden als der Tanz: es psc_015.006
war nicht strophisch, sondern bewegte sich in fortlaufenden psc_015.007
Vollzeilen. Dieser Unterschied des Epos vom Tanzlied ist psc_015.008
auch außerhalb der deutschen Dichtung typisch, wo sich ein psc_015.009
Epos gestaltet hat. Das Epos ist individuelle That, persönlicher psc_015.010
Vortrag, Einzelvortrag -- und das giebt ihm eine psc_015.011
größere Freiheit, die sich zunächst also dadurch äußert, daß psc_015.012
strophische Gliederung wegbleibt.

psc_015.013

Der Rhythmus lockert sich allmälig noch mehr; wenigstens psc_015.014
bei den Deutschen ist dies eingetreten. Größere psc_015.015
Freiheiten der Tanzpoesie gegenüber können wieder bis an psc_015.016
die Grenze der ungebundenen Rede führen. Solcher verwilderter psc_015.017
Rhythmus, wie es wenigstens scheint, findet sich im psc_015.018
Beowulf, im Heljand. Der Vortrag des Epos war grade psc_015.019
eben das "singen und sagen": es ward recitativisch gesungen.

psc_015.020

Solche recitativisch vorgetragene Poesie ist die Vorstufe psc_015.021
einer bloß gesagten, declamirten, nicht mehr recitativisch gesungenen, psc_015.022
sondern im Sprechton vorgetragenen Poesie. psc_015.023
Solche epische Lieder aus dem Kreise des Volksepos, solche psc_015.024
Heldendichtungen finden sich in Deutschland gegen Ende des psc_015.025
12. Jahrhunderts. Und man beobachtet in dieser volksthümlichen psc_015.026
Poesie zunächst noch keinen entschiedenen Einfluß psc_015.027
auf die Form; die Art des Vortrags manifestirt sich nur psc_015.028
z. B. durch das Überlaufen der Construction von einer

psc_015.001

  Diese Form der gemischten Erzählung ist erst die Vorstufe psc_015.002
einer Form, die ganz in gebundener Rede sich bewegt. psc_015.003
Dies Epos in gebundener Rede hatte jedenfalls keine psc_015.004
Spur von Tanz und dennoch einen festen Rhythmus. Freilich psc_015.005
in einem Punct ist es weniger gebunden als der Tanz: es psc_015.006
war nicht strophisch, sondern bewegte sich in fortlaufenden psc_015.007
Vollzeilen. Dieser Unterschied des Epos vom Tanzlied ist psc_015.008
auch außerhalb der deutschen Dichtung typisch, wo sich ein psc_015.009
Epos gestaltet hat. Das Epos ist individuelle That, persönlicher psc_015.010
Vortrag, Einzelvortrag — und das giebt ihm eine psc_015.011
größere Freiheit, die sich zunächst also dadurch äußert, daß psc_015.012
strophische Gliederung wegbleibt.

psc_015.013

  Der Rhythmus lockert sich allmälig noch mehr; wenigstens psc_015.014
bei den Deutschen ist dies eingetreten. Größere psc_015.015
Freiheiten der Tanzpoesie gegenüber können wieder bis an psc_015.016
die Grenze der ungebundenen Rede führen. Solcher verwilderter psc_015.017
Rhythmus, wie es wenigstens scheint, findet sich im psc_015.018
Beowulf, im Heljand. Der Vortrag des Epos war grade psc_015.019
eben das „singen und sagen“: es ward recitativisch gesungen.

psc_015.020

  Solche recitativisch vorgetragene Poesie ist die Vorstufe psc_015.021
einer bloß gesagten, declamirten, nicht mehr recitativisch gesungenen, psc_015.022
sondern im Sprechton vorgetragenen Poesie. psc_015.023
Solche epische Lieder aus dem Kreise des Volksepos, solche psc_015.024
Heldendichtungen finden sich in Deutschland gegen Ende des psc_015.025
12. Jahrhunderts. Und man beobachtet in dieser volksthümlichen psc_015.026
Poesie zunächst noch keinen entschiedenen Einfluß psc_015.027
auf die Form; die Art des Vortrags manifestirt sich nur psc_015.028
z. B. durch das Überlaufen der Construction von einer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0031" n="15"/>
            <lb n="psc_015.001"/>
            <p>  Diese Form der gemischten Erzählung ist erst die Vorstufe <lb n="psc_015.002"/>
einer Form, die ganz in gebundener Rede sich bewegt. <lb n="psc_015.003"/>
Dies <hi rendition="#g">Epos in gebundener Rede</hi> hatte jedenfalls keine <lb n="psc_015.004"/>
Spur von Tanz und dennoch einen festen Rhythmus. Freilich <lb n="psc_015.005"/>
in einem Punct ist es weniger gebunden als der Tanz: es <lb n="psc_015.006"/>
war nicht strophisch, sondern bewegte sich in fortlaufenden <lb n="psc_015.007"/>
Vollzeilen. Dieser Unterschied des Epos vom Tanzlied ist <lb n="psc_015.008"/>
auch außerhalb der deutschen Dichtung typisch, wo sich ein <lb n="psc_015.009"/>
Epos gestaltet hat. Das Epos ist individuelle That, persönlicher <lb n="psc_015.010"/>
Vortrag, Einzelvortrag &#x2014; und das giebt ihm eine <lb n="psc_015.011"/>
größere Freiheit, die sich zunächst also dadurch äußert, daß <lb n="psc_015.012"/>
strophische Gliederung wegbleibt.</p>
            <lb n="psc_015.013"/>
            <p>  Der Rhythmus lockert sich allmälig noch mehr; wenigstens <lb n="psc_015.014"/>
bei den Deutschen ist dies eingetreten. Größere <lb n="psc_015.015"/>
Freiheiten der Tanzpoesie gegenüber können wieder bis an <lb n="psc_015.016"/>
die Grenze der ungebundenen Rede führen. Solcher verwilderter <lb n="psc_015.017"/>
Rhythmus, wie es wenigstens scheint, findet sich im <lb n="psc_015.018"/>
Beowulf, im Heljand. Der Vortrag des Epos war grade <lb n="psc_015.019"/>
eben das &#x201E;singen und sagen&#x201C;: es ward recitativisch gesungen.</p>
            <lb n="psc_015.020"/>
            <p>  Solche recitativisch vorgetragene Poesie ist die Vorstufe <lb n="psc_015.021"/>
einer bloß gesagten, declamirten, nicht mehr recitativisch gesungenen, <lb n="psc_015.022"/>
sondern im Sprechton vorgetragenen Poesie. <lb n="psc_015.023"/>
Solche epische Lieder aus dem Kreise des Volksepos, solche <lb n="psc_015.024"/>
Heldendichtungen finden sich in Deutschland gegen Ende des <lb n="psc_015.025"/>
12. Jahrhunderts. Und man beobachtet in dieser volksthümlichen <lb n="psc_015.026"/>
Poesie zunächst noch keinen entschiedenen Einfluß <lb n="psc_015.027"/>
auf die Form; die Art des Vortrags manifestirt sich nur <lb n="psc_015.028"/>
z. B. durch das Überlaufen der Construction von einer
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0031] psc_015.001   Diese Form der gemischten Erzählung ist erst die Vorstufe psc_015.002 einer Form, die ganz in gebundener Rede sich bewegt. psc_015.003 Dies Epos in gebundener Rede hatte jedenfalls keine psc_015.004 Spur von Tanz und dennoch einen festen Rhythmus. Freilich psc_015.005 in einem Punct ist es weniger gebunden als der Tanz: es psc_015.006 war nicht strophisch, sondern bewegte sich in fortlaufenden psc_015.007 Vollzeilen. Dieser Unterschied des Epos vom Tanzlied ist psc_015.008 auch außerhalb der deutschen Dichtung typisch, wo sich ein psc_015.009 Epos gestaltet hat. Das Epos ist individuelle That, persönlicher psc_015.010 Vortrag, Einzelvortrag — und das giebt ihm eine psc_015.011 größere Freiheit, die sich zunächst also dadurch äußert, daß psc_015.012 strophische Gliederung wegbleibt. psc_015.013   Der Rhythmus lockert sich allmälig noch mehr; wenigstens psc_015.014 bei den Deutschen ist dies eingetreten. Größere psc_015.015 Freiheiten der Tanzpoesie gegenüber können wieder bis an psc_015.016 die Grenze der ungebundenen Rede führen. Solcher verwilderter psc_015.017 Rhythmus, wie es wenigstens scheint, findet sich im psc_015.018 Beowulf, im Heljand. Der Vortrag des Epos war grade psc_015.019 eben das „singen und sagen“: es ward recitativisch gesungen. psc_015.020   Solche recitativisch vorgetragene Poesie ist die Vorstufe psc_015.021 einer bloß gesagten, declamirten, nicht mehr recitativisch gesungenen, psc_015.022 sondern im Sprechton vorgetragenen Poesie. psc_015.023 Solche epische Lieder aus dem Kreise des Volksepos, solche psc_015.024 Heldendichtungen finden sich in Deutschland gegen Ende des psc_015.025 12. Jahrhunderts. Und man beobachtet in dieser volksthümlichen psc_015.026 Poesie zunächst noch keinen entschiedenen Einfluß psc_015.027 auf die Form; die Art des Vortrags manifestirt sich nur psc_015.028 z. B. durch das Überlaufen der Construction von einer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/31
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/31>, abgerufen am 21.11.2024.