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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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Halten wir fest: Lebhaftigkeit ist das Günstigste, und psc_261.002
Handlung ist immer lebhafter, als ruhende Eigenschaft.

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Verweilen wir noch einen Augenblick: so wie es möglich psc_261.004
ist, leichtfaßliche körperliche Eigenschaften an einander zu psc_261.005
reihen, so lassen sich auch Landschaftsbilder entwerfen; namentlich psc_261.006
von einer Person der Erzählung aus, mit deren Augen wir psc_261.007
gleichsam schauen, mit der wir uns orientiren, so daß uns psc_261.008
nach und nach das Bild klar wird; wieder aber darf es nicht psc_261.009
überladen sein.

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Das Nacheinander ist das Orientirende! Hierin steckt psc_261.011
schon ein natürliches Zeichen! Directe Nachahmung des psc_261.012
wandernden, nach und nach um sich greifenden Blicks; ihm psc_261.013
folgt die Schilderung. Das Nacheinander der Sprache ist psc_261.014
eine directe Nachahmung des Nacheinanders der Handlung; psc_261.015
eine Nachahmung der Wirklichkeit: wie man sich orientirt.

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Es kommt noch hinzu: wenn wir in einem Busch ein psc_261.017
nacktes schlafendes Weib entdecken, so können wir eher eine psc_261.018
Beschreibung ihrer Reize ertragen, als wenn uns zugemuthet psc_261.019
wird, im Augenblick, wo zwei Menschen sich erblicken und psc_261.020
auf einander losstürzen, wo nun nothwendig etwas geschehen psc_261.021
muß, uns noch für ihre Kleider und ihre Physiognomien zu psc_261.022
interessiren. Nur wenn man nun fragte: was läßt sich aus psc_261.023
ihren Zügen schließen -- das würden wir mitmachen.

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Wo im epischen Verlauf Betrachtung eintritt, da machen psc_261.025
wir sie ebenfalls mit. So z. B. Verbindung von Körperlichem psc_261.026
und Ethischem durch Physiognomik. Wieder ein Schlafender! psc_261.027
oder Einem wird ein Frauenbild in die Hand gegeben: er psc_261.028
ist gerührt, betrachtet es, sieht das Einzelne und sucht es physiognomisch

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  Halten wir fest: Lebhaftigkeit ist das Günstigste, und psc_261.002
Handlung ist immer lebhafter, als ruhende Eigenschaft.

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  Verweilen wir noch einen Augenblick: so wie es möglich psc_261.004
ist, leichtfaßliche körperliche Eigenschaften an einander zu psc_261.005
reihen, so lassen sich auch Landschaftsbilder entwerfen; namentlich psc_261.006
von einer Person der Erzählung aus, mit deren Augen wir psc_261.007
gleichsam schauen, mit der wir uns orientiren, so daß uns psc_261.008
nach und nach das Bild klar wird; wieder aber darf es nicht psc_261.009
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  Das Nacheinander ist das Orientirende! Hierin steckt psc_261.011
schon ein natürliches Zeichen! Directe Nachahmung des psc_261.012
wandernden, nach und nach um sich greifenden Blicks; ihm psc_261.013
folgt die Schilderung. Das Nacheinander der Sprache ist psc_261.014
eine directe Nachahmung des Nacheinanders der Handlung; psc_261.015
eine Nachahmung der Wirklichkeit: wie man sich orientirt.

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  Es kommt noch hinzu: wenn wir in einem Busch ein psc_261.017
nacktes schlafendes Weib entdecken, so können wir eher eine psc_261.018
Beschreibung ihrer Reize ertragen, als wenn uns zugemuthet psc_261.019
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muß, uns noch für ihre Kleider und ihre Physiognomien zu psc_261.022
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ihren Zügen schließen — das würden wir mitmachen.

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  Wo im epischen Verlauf Betrachtung eintritt, da machen psc_261.025
wir sie ebenfalls mit. So z. B. Verbindung von Körperlichem psc_261.026
und Ethischem durch Physiognomik. Wieder ein Schlafender! psc_261.027
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[261/0277] psc_261.001   Halten wir fest: Lebhaftigkeit ist das Günstigste, und psc_261.002 Handlung ist immer lebhafter, als ruhende Eigenschaft. psc_261.003   Verweilen wir noch einen Augenblick: so wie es möglich psc_261.004 ist, leichtfaßliche körperliche Eigenschaften an einander zu psc_261.005 reihen, so lassen sich auch Landschaftsbilder entwerfen; namentlich psc_261.006 von einer Person der Erzählung aus, mit deren Augen wir psc_261.007 gleichsam schauen, mit der wir uns orientiren, so daß uns psc_261.008 nach und nach das Bild klar wird; wieder aber darf es nicht psc_261.009 überladen sein. psc_261.010   Das Nacheinander ist das Orientirende! Hierin steckt psc_261.011 schon ein natürliches Zeichen! Directe Nachahmung des psc_261.012 wandernden, nach und nach um sich greifenden Blicks; ihm psc_261.013 folgt die Schilderung. Das Nacheinander der Sprache ist psc_261.014 eine directe Nachahmung des Nacheinanders der Handlung; psc_261.015 eine Nachahmung der Wirklichkeit: wie man sich orientirt. psc_261.016   Es kommt noch hinzu: wenn wir in einem Busch ein psc_261.017 nacktes schlafendes Weib entdecken, so können wir eher eine psc_261.018 Beschreibung ihrer Reize ertragen, als wenn uns zugemuthet psc_261.019 wird, im Augenblick, wo zwei Menschen sich erblicken und psc_261.020 auf einander losstürzen, wo nun nothwendig etwas geschehen psc_261.021 muß, uns noch für ihre Kleider und ihre Physiognomien zu psc_261.022 interessiren. Nur wenn man nun fragte: was läßt sich aus psc_261.023 ihren Zügen schließen — das würden wir mitmachen. psc_261.024   Wo im epischen Verlauf Betrachtung eintritt, da machen psc_261.025 wir sie ebenfalls mit. So z. B. Verbindung von Körperlichem psc_261.026 und Ethischem durch Physiognomik. Wieder ein Schlafender! psc_261.027 oder Einem wird ein Frauenbild in die Hand gegeben: er psc_261.028 ist gerührt, betrachtet es, sieht das Einzelne und sucht es physiognomisch

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/277>, abgerufen am 12.05.2024.