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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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Die Grenzen zwischen Vortrag und Dialog können ebenfalls psc_243.002
fließend sein: der Redner kann eine Frage in das psc_243.003
Publicum werfen, worauf Antwort erfolgt; der Redner kann psc_243.004
seinen Zuhörern den Eindruck ablesen, in Mienen und Gebärden, psc_243.005
Beistimmung und Widerspruch -- was beides für psc_243.006
ihn bestimmendes Moment der Fortführung werden kann. psc_243.007
Es mögen auch Zurufe, Beifall, Murren, directe Unterbrechungen, psc_243.008
Einwendungen erfolgen. Alles wird Moment psc_243.009
der Fortführung -- aber auch Übergang im Dialog.

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Dialog also in der Urform ist Unterredung von Zweien. psc_243.011
Schemata: die Beiden sind einverstanden oder sie sind es nicht.

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Einverstanden: der Eine behauptet, der Andere stimmt psc_243.013
bei; der Andere nimmt dem Ersten das Wort aus dem psc_243.014
Munde und setzt seine Gedanken fort; Jeder bringt von seiner psc_243.015
Seite etwas bei, um dieselbe Meinung zu bekräftigen.

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Nicht einverstanden: Erörterung, Streit, Discussion; psc_243.017
dies ist eine günstigere Form für poetische Wirkung, weil psc_243.018
Conflict und damit spannende, erregende Momente gegeben sind.

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Jn diese Schemata ist beinahe Alles zu fassen. Ein psc_243.020
Bote, welcher kommt und berichtet: das ist eigentlich nicht psc_243.021
Dialog, sondern Vortrag. Frage und Auskunft; die Antwort psc_243.022
kann auch zum Vortrag werden; es redet eigentlich psc_243.023
nur Einer, der Andere hat nur Eindrücke, entweder freudige psc_243.024
(einverstanden) oder schmerzliche (nicht einverstanden).

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Freilich giebt es unzählige Übergangsformen, die man psc_243.026
durch Classisication des Vorhandenen erforschen müßte. psc_243.027
Die Technik des Dialogs bei Plato, Lucian, Erasmus, psc_243.028
Hutten, Shakespeare u. s. w. wäre zu untersuchen.

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  Die Grenzen zwischen Vortrag und Dialog können ebenfalls psc_243.002
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Publicum werfen, worauf Antwort erfolgt; der Redner kann psc_243.004
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Es mögen auch Zurufe, Beifall, Murren, directe Unterbrechungen, psc_243.008
Einwendungen erfolgen. Alles wird Moment psc_243.009
der Fortführung — aber auch Übergang im Dialog.

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  Dialog also in der Urform ist Unterredung von Zweien. psc_243.011
Schemata: die Beiden sind einverstanden oder sie sind es nicht.

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  Einverstanden: der Eine behauptet, der Andere stimmt psc_243.013
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Munde und setzt seine Gedanken fort; Jeder bringt von seiner psc_243.015
Seite etwas bei, um dieselbe Meinung zu bekräftigen.

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  Nicht einverstanden: Erörterung, Streit, Discussion; psc_243.017
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Conflict und damit spannende, erregende Momente gegeben sind.

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  Jn diese Schemata ist beinahe Alles zu fassen. Ein psc_243.020
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kann auch zum Vortrag werden; es redet eigentlich psc_243.023
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  Freilich giebt es unzählige Übergangsformen, die man psc_243.026
durch Classisication des Vorhandenen erforschen müßte. psc_243.027
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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/259>, abgerufen am 13.05.2024.