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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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das geraubte Kind; die neue Geliebte (Circe). Forderung psc_218.002
ist dabei, daß die Verwicklung allemal durch Wiedervereinigung, psc_218.003
Zurückkommen u. s. w. gelöst werde: unerwartete psc_218.004
Rückkehr des Helden u. s. w.

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Sehr fruchtbar ist ferner die Figur der Täuschung oder psc_218.006
des Nichtwissens. Die Täuschung kann bewußt oder unbewußt, psc_218.007
allgemein oder getheilt sein. Ein Mensch lügt über psc_218.008
sich (Odysseus u. a.; Verkleidung, Maske, Schwindler u. s. w.) psc_218.009
oder über Andere (Jntrigant, Verleumder). Ein Mensch psc_218.010
ist in wirklicher Unkenntniß über sich oder Andere, weiß das entweder psc_218.011
oder weiß es nicht; ein Mensch weiß etwas von Andern psc_218.012
Gewußtes und Andere Beschäftigendes nicht. Es entsteht die psc_218.013
Figur der tragischen Jronie: daß nämlich ein Mensch etwas psc_218.014
nicht weiß, was das Publicum weiß -- wenn z. B. zwei Personen psc_218.015
sich über das künftige Glück einer todten Person unterhalten. psc_218.016
Jrrthümer über die Verhältnisse machen sich plötzlich geltend, psc_218.017
unbekannte Hindernisse treten mit einem Male vor. Blindheit, psc_218.018
körperlich und moralisch, Taubheit, Verblendung im psc_218.019
Handeln, Unerfahrenheit, Naivetät: überall ist das Nichtwissen psc_218.020
das eigentlich Bewegende, das Folgenreiche und die Spannung psc_218.021
Erregende. Dahin gehören ferner Mißverständnisse; Menschen, psc_218.022
die mit einander verwechselt werden (Doppelgänger, Menächmen), psc_218.023
Menschen, die sich in einander täuschen u. s. w.

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Forderung: die Täuschung muß zu einer Entdeckung psc_218.025
führen. --

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IV. Die Klassen der Wirkungen.
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Wir unterscheiden zunächst Motive der Handlungen psc_218.028
und Motive der Charaktere und fragen, welche Wirkungen

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das geraubte Kind; die neue Geliebte (Circe). Forderung psc_218.002
ist dabei, daß die Verwicklung allemal durch Wiedervereinigung, psc_218.003
Zurückkommen u. s. w. gelöst werde: unerwartete psc_218.004
Rückkehr des Helden u. s. w.

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  Sehr fruchtbar ist ferner die Figur der Täuschung oder psc_218.006
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sich (Odysseus u. a.; Verkleidung, Maske, Schwindler u. s. w.) psc_218.009
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ist in wirklicher Unkenntniß über sich oder Andere, weiß das entweder psc_218.011
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unbekannte Hindernisse treten mit einem Male vor. Blindheit, psc_218.018
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die mit einander verwechselt werden (Doppelgänger, Menächmen), psc_218.023
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  Forderung: die Täuschung muß zu einer Entdeckung psc_218.025
führen. —

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[218/0234] psc_218.001 das geraubte Kind; die neue Geliebte (Circe). Forderung psc_218.002 ist dabei, daß die Verwicklung allemal durch Wiedervereinigung, psc_218.003 Zurückkommen u. s. w. gelöst werde: unerwartete psc_218.004 Rückkehr des Helden u. s. w. psc_218.005   Sehr fruchtbar ist ferner die Figur der Täuschung oder psc_218.006 des Nichtwissens. Die Täuschung kann bewußt oder unbewußt, psc_218.007 allgemein oder getheilt sein. Ein Mensch lügt über psc_218.008 sich (Odysseus u. a.; Verkleidung, Maske, Schwindler u. s. w.) psc_218.009 oder über Andere (Jntrigant, Verleumder). Ein Mensch psc_218.010 ist in wirklicher Unkenntniß über sich oder Andere, weiß das entweder psc_218.011 oder weiß es nicht; ein Mensch weiß etwas von Andern psc_218.012 Gewußtes und Andere Beschäftigendes nicht. Es entsteht die psc_218.013 Figur der tragischen Jronie: daß nämlich ein Mensch etwas psc_218.014 nicht weiß, was das Publicum weiß — wenn z. B. zwei Personen psc_218.015 sich über das künftige Glück einer todten Person unterhalten. psc_218.016 Jrrthümer über die Verhältnisse machen sich plötzlich geltend, psc_218.017 unbekannte Hindernisse treten mit einem Male vor. Blindheit, psc_218.018 körperlich und moralisch, Taubheit, Verblendung im psc_218.019 Handeln, Unerfahrenheit, Naivetät: überall ist das Nichtwissen psc_218.020 das eigentlich Bewegende, das Folgenreiche und die Spannung psc_218.021 Erregende. Dahin gehören ferner Mißverständnisse; Menschen, psc_218.022 die mit einander verwechselt werden (Doppelgänger, Menächmen), psc_218.023 Menschen, die sich in einander täuschen u. s. w. psc_218.024   Forderung: die Täuschung muß zu einer Entdeckung psc_218.025 führen. — psc_218.026 IV. Die Klassen der Wirkungen. psc_218.027   Wir unterscheiden zunächst Motive der Handlungen psc_218.028 und Motive der Charaktere und fragen, welche Wirkungen

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/234>, abgerufen am 03.05.2024.