Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_176.001 psc_176.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0192" n="176"/><lb n="psc_176.001"/> seinen Bildern etwa spiegle. Unter unseren Vorfahren sangen <lb n="psc_176.002"/> Blinde vom hörnernen Siegfried. Die serbische Dichtung <lb n="psc_176.003"/> findet sich bis heute hauptsächlich im Gedächtniß blinder <lb n="psc_176.004"/> Greise aufbewahrt. Homer, Ossian werden für blind <lb n="psc_176.005"/> gehalten, offenbar auf Grund ähnlicher Thatsachen, daß <lb n="psc_176.006"/> blinde Greise bei Griechen, bei Celten die poetische Überlieferung <lb n="psc_176.007"/> bewahrten. J. Grimm, Über das Alter (Kl. Schr. <lb n="psc_176.008"/> 1, 200) sagt: „Da die Kraft des Gedächtnisses durch innere <lb n="psc_176.009"/> Sammlung, unter Abgang des zerstreuenden Augenlichts <lb n="psc_176.010"/> unglaublich steigt, so waren aufgeweckte Blinde vorzugsweise <lb n="psc_176.011"/> für den Gesang und das Hersagen der Volkslieder geeignet.“ <lb n="psc_176.012"/> Dies ist gewiß ein Theil der richtigen Erklärung. Außerdem <lb n="psc_176.013"/> aber waren sie zu keiner Arbeit geeignet und lebten <lb n="psc_176.014"/> so doch nützlich, weil zur Freude ihrer Mitmenschen. Aber <lb n="psc_176.015"/> ob damit die Erklärung erschöpft ist? Ob nicht die Concentration <lb n="psc_176.016"/> und Sammlung an sich durch die Trennung von der <lb n="psc_176.017"/> Außenwelt gesteigert ist und dadurch die poetische Fähigkeit? <lb n="psc_176.018"/> S. oben 4) über das gesammelte Arbeiten. Treten keine <lb n="psc_176.019"/> neuen Gesichtseindrücke von außen ein, so fällt die Arbeit <lb n="psc_176.020"/> des <hi rendition="#g">Verarbeitens</hi> dieser zutretenden hinweg, und das innere <lb n="psc_176.021"/> Leben wirft sich auf ein immer vollständigeres Bearbeiten der <lb n="psc_176.022"/> schon vorhandenen aus der Zeit des Sehens, so daß sichere <lb n="psc_176.023"/> Herrschaft hierüber, verbunden insbesondere mit sicherer <lb n="psc_176.024"/> Herrschaft über den poetischen Ausdruck, erreicht wird. — <lb n="psc_176.025"/> Die Organisation der Vorstellungsmasse als poetischer Stoff <lb n="psc_176.026"/> und geformter Stoff kann immer weiter getrieben und zu <lb n="psc_176.027"/> großer Vollkommenheit gebracht werden, so daß productiven <lb n="psc_176.028"/> Dichtern die Fortpflanzung der Überlieferung mit gelegentlicher </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [176/0192]
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seinen Bildern etwa spiegle. Unter unseren Vorfahren sangen psc_176.002
Blinde vom hörnernen Siegfried. Die serbische Dichtung psc_176.003
findet sich bis heute hauptsächlich im Gedächtniß blinder psc_176.004
Greise aufbewahrt. Homer, Ossian werden für blind psc_176.005
gehalten, offenbar auf Grund ähnlicher Thatsachen, daß psc_176.006
blinde Greise bei Griechen, bei Celten die poetische Überlieferung psc_176.007
bewahrten. J. Grimm, Über das Alter (Kl. Schr. psc_176.008
1, 200) sagt: „Da die Kraft des Gedächtnisses durch innere psc_176.009
Sammlung, unter Abgang des zerstreuenden Augenlichts psc_176.010
unglaublich steigt, so waren aufgeweckte Blinde vorzugsweise psc_176.011
für den Gesang und das Hersagen der Volkslieder geeignet.“ psc_176.012
Dies ist gewiß ein Theil der richtigen Erklärung. Außerdem psc_176.013
aber waren sie zu keiner Arbeit geeignet und lebten psc_176.014
so doch nützlich, weil zur Freude ihrer Mitmenschen. Aber psc_176.015
ob damit die Erklärung erschöpft ist? Ob nicht die Concentration psc_176.016
und Sammlung an sich durch die Trennung von der psc_176.017
Außenwelt gesteigert ist und dadurch die poetische Fähigkeit? psc_176.018
S. oben 4) über das gesammelte Arbeiten. Treten keine psc_176.019
neuen Gesichtseindrücke von außen ein, so fällt die Arbeit psc_176.020
des Verarbeitens dieser zutretenden hinweg, und das innere psc_176.021
Leben wirft sich auf ein immer vollständigeres Bearbeiten der psc_176.022
schon vorhandenen aus der Zeit des Sehens, so daß sichere psc_176.023
Herrschaft hierüber, verbunden insbesondere mit sicherer psc_176.024
Herrschaft über den poetischen Ausdruck, erreicht wird. — psc_176.025
Die Organisation der Vorstellungsmasse als poetischer Stoff psc_176.026
und geformter Stoff kann immer weiter getrieben und zu psc_176.027
großer Vollkommenheit gebracht werden, so daß productiven psc_176.028
Dichtern die Fortpflanzung der Überlieferung mit gelegentlicher
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