Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

psc_160.001
18. Jahrhundert, wo Poesie nur als Nebenbeschäftigung müßiger psc_160.002
Stunden angesehen wird; daher die Titel "Poetische Nebenstunden" psc_160.003
u. dgl. bei den Canitz, Besser u. A. Und so läßt sich psc_160.004
denn eine handwerksmäßig prosaische Dichtweise denken, in psc_160.005
welcher von besonderer innerer Erregung nicht gesprochen werden psc_160.006
kann -- aber das werden nicht die Zeiten großer Schöpferkraft psc_160.007
sein, sondern die Zeiten, in denen man höchstens erlernte psc_160.008
Mittel kunstgerecht anwendet. So wurden damals nur psc_160.009
mit erlernter Technik platte Gedanken versificirt.

psc_160.010

Aber für Zeiten wahrer Schöpferkraft und für starke psc_160.011
Jngenien hat man diese Erregung sicher vorauszusetzen, und psc_160.012
ebenso für die Conception der Urzeit.

psc_160.013

Jene Erregung aber was ist sie? Erregung, Thätigkeit, psc_160.014
Spiel der Phantasie.

psc_160.015

Und was ist Phantasie?

psc_160.016

Michaut, De l'imagination (Paris 1876); Cohen, Die psc_160.017
dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins, psc_160.018
Zeitschrift für Völkerpsychologie 6, 171-263; Steinthal ebd. psc_160.019
6, 301; J. B. Meyer, Das Wesen der Einbildungskraft, ebd. psc_160.020
10, 26-41. Vischer hat der Lehre von der Phantasie einen psc_160.021
ganzen Band seiner "Aesthetik", Theil 2, Abth. 2 gewidmet. psc_160.022
Aber er hat Dichtung durchweg mit Speculation vermischt psc_160.023
und geht nicht so empirisch=psychologisch vor, wie wir es psc_160.024
brauchten, obgleich voll von hergehörigen und fördernden psc_160.025
Bemerkungen.

psc_160.026

Der ganze Proceß, der zur Schaffung poetischer Kunstwerke psc_160.027
führt, von dem ersten Aufleuchten des poetischen Motivs psc_160.028
bis zur letzten vollständigen Behandlung in Sprache

psc_160.001
18. Jahrhundert, wo Poesie nur als Nebenbeschäftigung müßiger psc_160.002
Stunden angesehen wird; daher die Titel „Poetische Nebenstunden“ psc_160.003
u. dgl. bei den Canitz, Besser u. A. Und so läßt sich psc_160.004
denn eine handwerksmäßig prosaische Dichtweise denken, in psc_160.005
welcher von besonderer innerer Erregung nicht gesprochen werden psc_160.006
kann — aber das werden nicht die Zeiten großer Schöpferkraft psc_160.007
sein, sondern die Zeiten, in denen man höchstens erlernte psc_160.008
Mittel kunstgerecht anwendet. So wurden damals nur psc_160.009
mit erlernter Technik platte Gedanken versificirt.

psc_160.010

  Aber für Zeiten wahrer Schöpferkraft und für starke psc_160.011
Jngenien hat man diese Erregung sicher vorauszusetzen, und psc_160.012
ebenso für die Conception der Urzeit.

psc_160.013

  Jene Erregung aber was ist sie? Erregung, Thätigkeit, psc_160.014
Spiel der Phantasie.

psc_160.015

  Und was ist Phantasie?

psc_160.016

  Michaut, De l'imagination (Paris 1876); Cohen, Die psc_160.017
dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins, psc_160.018
Zeitschrift für Völkerpsychologie 6, 171–263; Steinthal ebd. psc_160.019
6, 301; J. B. Meyer, Das Wesen der Einbildungskraft, ebd. psc_160.020
10, 26–41. Vischer hat der Lehre von der Phantasie einen psc_160.021
ganzen Band seiner „Aesthetik“, Theil 2, Abth. 2 gewidmet. psc_160.022
Aber er hat Dichtung durchweg mit Speculation vermischt psc_160.023
und geht nicht so empirisch=psychologisch vor, wie wir es psc_160.024
brauchten, obgleich voll von hergehörigen und fördernden psc_160.025
Bemerkungen.

psc_160.026

  Der ganze Proceß, der zur Schaffung poetischer Kunstwerke psc_160.027
führt, von dem ersten Aufleuchten des poetischen Motivs psc_160.028
bis zur letzten vollständigen Behandlung in Sprache

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0176" n="160"/><lb n="psc_160.001"/>
18. Jahrhundert, wo Poesie nur als Nebenbeschäftigung müßiger <lb n="psc_160.002"/>
Stunden angesehen wird; daher die Titel &#x201E;Poetische Nebenstunden&#x201C; <lb n="psc_160.003"/>
u. dgl. bei den Canitz, Besser u. A. Und so läßt sich <lb n="psc_160.004"/>
denn eine handwerksmäßig prosaische Dichtweise denken, in <lb n="psc_160.005"/>
welcher von besonderer innerer Erregung nicht gesprochen werden <lb n="psc_160.006"/>
kann &#x2014; aber das werden nicht die Zeiten großer Schöpferkraft <lb n="psc_160.007"/>
sein, sondern die Zeiten, in denen man höchstens erlernte <lb n="psc_160.008"/>
Mittel kunstgerecht anwendet. So wurden damals nur <lb n="psc_160.009"/>
mit erlernter Technik platte Gedanken versificirt.</p>
            <lb n="psc_160.010"/>
            <p>  Aber für Zeiten wahrer Schöpferkraft und für starke <lb n="psc_160.011"/>
Jngenien hat man diese Erregung sicher vorauszusetzen, und <lb n="psc_160.012"/>
ebenso für die Conception der Urzeit.</p>
            <lb n="psc_160.013"/>
            <p>  Jene Erregung aber was ist sie? Erregung, Thätigkeit, <lb n="psc_160.014"/>
Spiel der <hi rendition="#g">Phantasie.</hi></p>
            <lb n="psc_160.015"/>
            <p>  Und was ist Phantasie?</p>
            <lb n="psc_160.016"/>
            <p>  <hi rendition="#aq">Michaut, De l'imagination</hi> (Paris 1876); Cohen, Die <lb n="psc_160.017"/>
dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins, <lb n="psc_160.018"/>
Zeitschrift für Völkerpsychologie 6, 171&#x2013;263; Steinthal ebd. <lb n="psc_160.019"/>
6, 301; J. B. Meyer, Das Wesen der Einbildungskraft, ebd. <lb n="psc_160.020"/>
10, 26&#x2013;41. Vischer hat der Lehre von der Phantasie einen <lb n="psc_160.021"/>
ganzen Band seiner &#x201E;Aesthetik&#x201C;, Theil 2, Abth. 2 gewidmet. <lb n="psc_160.022"/>
Aber er hat Dichtung durchweg mit Speculation vermischt <lb n="psc_160.023"/>
und geht nicht so empirisch=psychologisch vor, wie wir es <lb n="psc_160.024"/>
brauchten, obgleich voll von hergehörigen und fördernden <lb n="psc_160.025"/>
Bemerkungen.</p>
            <lb n="psc_160.026"/>
            <p>  Der ganze Proceß, der zur Schaffung poetischer Kunstwerke <lb n="psc_160.027"/>
führt, von dem ersten Aufleuchten des poetischen Motivs <lb n="psc_160.028"/>
bis zur letzten vollständigen Behandlung in Sprache
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[160/0176] psc_160.001 18. Jahrhundert, wo Poesie nur als Nebenbeschäftigung müßiger psc_160.002 Stunden angesehen wird; daher die Titel „Poetische Nebenstunden“ psc_160.003 u. dgl. bei den Canitz, Besser u. A. Und so läßt sich psc_160.004 denn eine handwerksmäßig prosaische Dichtweise denken, in psc_160.005 welcher von besonderer innerer Erregung nicht gesprochen werden psc_160.006 kann — aber das werden nicht die Zeiten großer Schöpferkraft psc_160.007 sein, sondern die Zeiten, in denen man höchstens erlernte psc_160.008 Mittel kunstgerecht anwendet. So wurden damals nur psc_160.009 mit erlernter Technik platte Gedanken versificirt. psc_160.010   Aber für Zeiten wahrer Schöpferkraft und für starke psc_160.011 Jngenien hat man diese Erregung sicher vorauszusetzen, und psc_160.012 ebenso für die Conception der Urzeit. psc_160.013   Jene Erregung aber was ist sie? Erregung, Thätigkeit, psc_160.014 Spiel der Phantasie. psc_160.015   Und was ist Phantasie? psc_160.016   Michaut, De l'imagination (Paris 1876); Cohen, Die psc_160.017 dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins, psc_160.018 Zeitschrift für Völkerpsychologie 6, 171–263; Steinthal ebd. psc_160.019 6, 301; J. B. Meyer, Das Wesen der Einbildungskraft, ebd. psc_160.020 10, 26–41. Vischer hat der Lehre von der Phantasie einen psc_160.021 ganzen Band seiner „Aesthetik“, Theil 2, Abth. 2 gewidmet. psc_160.022 Aber er hat Dichtung durchweg mit Speculation vermischt psc_160.023 und geht nicht so empirisch=psychologisch vor, wie wir es psc_160.024 brauchten, obgleich voll von hergehörigen und fördernden psc_160.025 Bemerkungen. psc_160.026   Der ganze Proceß, der zur Schaffung poetischer Kunstwerke psc_160.027 führt, von dem ersten Aufleuchten des poetischen Motivs psc_160.028 bis zur letzten vollständigen Behandlung in Sprache

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/176
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/176>, abgerufen am 25.11.2024.