Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_155.001 Wenn wir diesen ganzen Vorgang ein "Auseinandersingen" psc_155.002 Es ist beiläufig zu bemerken, daß von unseren beiden psc_155.026 psc_155.001 Wenn wir diesen ganzen Vorgang ein „Auseinandersingen“ psc_155.002 Es ist beiläufig zu bemerken, daß von unseren beiden psc_155.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0171" n="155"/> <lb n="psc_155.001"/> <p> Wenn wir diesen ganzen Vorgang ein „Auseinandersingen“ <lb n="psc_155.002"/> nennen können, so ist ebenso gut ein „Zusammensingen“ <lb n="psc_155.003"/> möglich. Die verbindenden Dritten können selbst <lb n="psc_155.004"/> wieder Sänger sein. Es kann ein Sänger zwei bestehende <lb n="psc_155.005"/> Sagen in dichterischer Behandlung vereinigen. Jm 5. Jahrhundert <lb n="psc_155.006"/> gab es eine Überlieferung von Hildico, der Mörderin <lb n="psc_155.007"/> Attilas, und es gab davon ganz unabhängig eine <lb n="psc_155.008"/> Überlieferung von Kriemhild und ihren Brüdern, von einem <lb n="psc_155.009"/> Siegfried, dem Gatten dieser Kriemhild, den sie früh verloren. <lb n="psc_155.010"/> Nun kam ein Sänger, welcher diese Überlieferung <lb n="psc_155.011"/> von Hildico mit der von Kriemhild verband. Er trug nur <lb n="psc_155.012"/> die Geschichte von Attilas Tod vor, indem er eine Motivirung <lb n="psc_155.013"/> hinzufügte: er behauptete, Hildico habe Attila aus Rache <lb n="psc_155.014"/> getödtet, weil er ihre Brüder getödtet habe. So wird die <lb n="psc_155.015"/> „Rache“ für den Tod der Burgunden in die andere Überlieferung <lb n="psc_155.016"/> hineingebracht, wozu wenige Sätze ausreichten, in <lb n="psc_155.017"/> der balladenartigen Poesie ein einziger Satz. Hierdurch <lb n="psc_155.018"/> aber kann dann ein Lied vom Untergang der Burgunden <lb n="psc_155.019"/> und ein Lied vom Tode Attilas verbunden, „zusammengesungen“ <lb n="psc_155.020"/> sein und Nachfolgenden nun als eine Einheit erscheinen <lb n="psc_155.021"/> oder sie zur Herstellung einer Einheit reizen: so <lb n="psc_155.022"/> sind nachträglich die Verfasser der beiden älteren Lieder <lb n="psc_155.023"/> zu Mitarbeitern an demselben jüngeren Werk geworden, ohne <lb n="psc_155.024"/> es zu wissen.</p> <lb n="psc_155.025"/> <p> Es ist beiläufig zu bemerken, daß von unseren beiden <lb n="psc_155.026"/> Beispielen aus der Geschichte des Nibelungenliedes das erste <lb n="psc_155.027"/> eine jüngere Sagengestaltung voraussetzt. Das „Zusammensingen“ <lb n="psc_155.028"/> von Kriemhild und Hildico ist älter; dann kommt </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [155/0171]
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Wenn wir diesen ganzen Vorgang ein „Auseinandersingen“ psc_155.002
nennen können, so ist ebenso gut ein „Zusammensingen“ psc_155.003
möglich. Die verbindenden Dritten können selbst psc_155.004
wieder Sänger sein. Es kann ein Sänger zwei bestehende psc_155.005
Sagen in dichterischer Behandlung vereinigen. Jm 5. Jahrhundert psc_155.006
gab es eine Überlieferung von Hildico, der Mörderin psc_155.007
Attilas, und es gab davon ganz unabhängig eine psc_155.008
Überlieferung von Kriemhild und ihren Brüdern, von einem psc_155.009
Siegfried, dem Gatten dieser Kriemhild, den sie früh verloren. psc_155.010
Nun kam ein Sänger, welcher diese Überlieferung psc_155.011
von Hildico mit der von Kriemhild verband. Er trug nur psc_155.012
die Geschichte von Attilas Tod vor, indem er eine Motivirung psc_155.013
hinzufügte: er behauptete, Hildico habe Attila aus Rache psc_155.014
getödtet, weil er ihre Brüder getödtet habe. So wird die psc_155.015
„Rache“ für den Tod der Burgunden in die andere Überlieferung psc_155.016
hineingebracht, wozu wenige Sätze ausreichten, in psc_155.017
der balladenartigen Poesie ein einziger Satz. Hierdurch psc_155.018
aber kann dann ein Lied vom Untergang der Burgunden psc_155.019
und ein Lied vom Tode Attilas verbunden, „zusammengesungen“ psc_155.020
sein und Nachfolgenden nun als eine Einheit erscheinen psc_155.021
oder sie zur Herstellung einer Einheit reizen: so psc_155.022
sind nachträglich die Verfasser der beiden älteren Lieder psc_155.023
zu Mitarbeitern an demselben jüngeren Werk geworden, ohne psc_155.024
es zu wissen.
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Es ist beiläufig zu bemerken, daß von unseren beiden psc_155.026
Beispielen aus der Geschichte des Nibelungenliedes das erste psc_155.027
eine jüngere Sagengestaltung voraussetzt. Das „Zusammensingen“ psc_155.028
von Kriemhild und Hildico ist älter; dann kommt
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