Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_135.001 2. Eine weitere Folge der schriftlosen Verbreitung ist psc_135.021 psc_135.001 2. Eine weitere Folge der schriftlosen Verbreitung ist psc_135.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0151" n="135"/><lb n="psc_135.001"/> Epos ist in älterer Zeit Ersatz der Geschichte. Was man <lb n="psc_135.002"/> nicht genau weiß, wird durch ungenaue Versionen ersetzt. <lb n="psc_135.003"/> Die Sage ist die unwillkürliche und nothwendige Entstellung <lb n="psc_135.004"/> historischer Berichte, beruhend auf dem unvollständigen Wissen <lb n="psc_135.005"/> und der mangelhaften Fortpflanzung derselben; eine Entstellung, <lb n="psc_135.006"/> wie sie ohne schriftliche Controle, d. h. ohne die Controle <lb n="psc_135.007"/> von schriftlichen Zeugnissen der Zeitgenossen und <lb n="psc_135.008"/> Augenzeugen, sich einstellen muß. Dazu kommt nun noch, <lb n="psc_135.009"/> daß man eine lückenlose Erzählung zu geben und deshalb <lb n="psc_135.010"/> die Lücken auszufüllen sucht, und dies geschieht dann nach gewissen <lb n="psc_135.011"/> Schablonen und wahrscheinlich oft vorkommenden und <lb n="psc_135.012"/> deshalb dem Erzähler nahe liegenden Mustern. Das gilt <lb n="psc_135.013"/> sowohl für Stellen, in denen der ursprüngliche Bericht nicht <lb n="psc_135.014"/> genau, nicht ausführlich genug scheint, als für solche, die der <lb n="psc_135.015"/> Erzähler vergessen hat, und so bilden sich in der Sage gewisse <lb n="psc_135.016"/> typische Formen. Schon das vergrößernde Gerücht, das <lb n="psc_135.017"/> die Kunde von einer Thatsache weiter trägt und bis in ferne <lb n="psc_135.018"/> Gegenden bringt, wird diese Umformung der Verhältnisse <lb n="psc_135.019"/> vornehmen und zwar im Sinne der Durchschnittsverhältnisse.</p> <lb n="psc_135.020"/> <p> 2. Eine weitere Folge der schriftlosen Verbreitung ist <lb n="psc_135.021"/> das Zurücktreten des individuellen Stils in der Naturpoesie. <lb n="psc_135.022"/> Nicht der Dichter selbst ist in der Lage sein Werk zu verbreiten: <lb n="psc_135.023"/> er kann nicht überall hingehen, und wenn erst Gedichte <lb n="psc_135.024"/> ihren Verfasser überleben, laufen sie durch vieler Leute <lb n="psc_135.025"/> Mund. Das Gedächtniß pflegt nicht so unbedingt treu zu <lb n="psc_135.026"/> sein; und wo das Gedächtniß im Stich läßt, tritt das Gewöhnlichere <lb n="psc_135.027"/> für das Seltenere ein, weil die Verbreiter in der <lb n="psc_135.028"/> Regel weniger bedeutend sind als die Autoren. Wo Autoren </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [135/0151]
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Epos ist in älterer Zeit Ersatz der Geschichte. Was man psc_135.002
nicht genau weiß, wird durch ungenaue Versionen ersetzt. psc_135.003
Die Sage ist die unwillkürliche und nothwendige Entstellung psc_135.004
historischer Berichte, beruhend auf dem unvollständigen Wissen psc_135.005
und der mangelhaften Fortpflanzung derselben; eine Entstellung, psc_135.006
wie sie ohne schriftliche Controle, d. h. ohne die Controle psc_135.007
von schriftlichen Zeugnissen der Zeitgenossen und psc_135.008
Augenzeugen, sich einstellen muß. Dazu kommt nun noch, psc_135.009
daß man eine lückenlose Erzählung zu geben und deshalb psc_135.010
die Lücken auszufüllen sucht, und dies geschieht dann nach gewissen psc_135.011
Schablonen und wahrscheinlich oft vorkommenden und psc_135.012
deshalb dem Erzähler nahe liegenden Mustern. Das gilt psc_135.013
sowohl für Stellen, in denen der ursprüngliche Bericht nicht psc_135.014
genau, nicht ausführlich genug scheint, als für solche, die der psc_135.015
Erzähler vergessen hat, und so bilden sich in der Sage gewisse psc_135.016
typische Formen. Schon das vergrößernde Gerücht, das psc_135.017
die Kunde von einer Thatsache weiter trägt und bis in ferne psc_135.018
Gegenden bringt, wird diese Umformung der Verhältnisse psc_135.019
vornehmen und zwar im Sinne der Durchschnittsverhältnisse.
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2. Eine weitere Folge der schriftlosen Verbreitung ist psc_135.021
das Zurücktreten des individuellen Stils in der Naturpoesie. psc_135.022
Nicht der Dichter selbst ist in der Lage sein Werk zu verbreiten: psc_135.023
er kann nicht überall hingehen, und wenn erst Gedichte psc_135.024
ihren Verfasser überleben, laufen sie durch vieler Leute psc_135.025
Mund. Das Gedächtniß pflegt nicht so unbedingt treu zu psc_135.026
sein; und wo das Gedächtniß im Stich läßt, tritt das Gewöhnlichere psc_135.027
für das Seltenere ein, weil die Verbreiter in der psc_135.028
Regel weniger bedeutend sind als die Autoren. Wo Autoren
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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