Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_114.001 Die Gründe für diese erregende Macht der Poesie sind psc_114.002 Wie die Poesie zu praktischen Zwecken benutzt, ja mißbraucht psc_114.008 psc_114.001 Die Gründe für diese erregende Macht der Poesie sind psc_114.002 Wie die Poesie zu praktischen Zwecken benutzt, ja mißbraucht psc_114.008 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0130" n="114"/> <lb n="psc_114.001"/> <p> Die Gründe für diese erregende Macht der Poesie sind <lb n="psc_114.002"/> wohl ziemlich klar. Die Poesie ist durch Ursprung und <lb n="psc_114.003"/> Tradition, durch jahrhundertelange Übung associirt mit angenehmen <lb n="psc_114.004"/> Vorstellungen, die sie ursprünglich auf eine angenehme <lb n="psc_114.005"/> Weise erweckt. Darauf beruht ihre Macht. Diese <lb n="psc_114.006"/> Macht kann angewandt werden zu andern Zwecken.</p> <lb n="psc_114.007"/> <p> Wie die Poesie zu praktischen Zwecken benutzt, ja mißbraucht <lb n="psc_114.008"/> werden kann, so wird sie auch zu Lehrzwecken benutzt, <lb n="psc_114.009"/> wenn dem Wissenden daran gelegen ist, sein Wissen <lb n="psc_114.010"/> zu verbreiten. Die Poesie wird immer ein Mittel gewähren, <lb n="psc_114.011"/> eine neu gefundene Wahrheit leichter zu verbreiten. Dazu <lb n="psc_114.012"/> kommt das Folgende: wer in schriftloser Zeit eine Wahrheit <lb n="psc_114.013"/> in poetische, rhythmische, chorische Form faßte, übergab sie <lb n="psc_114.014"/> damit dem Gedächtniß in einer für die Aufbewahrung zweckmäßigeren <lb n="psc_114.015"/> Gestalt: man behält Verse leichter als Prosa. <lb n="psc_114.016"/> Schon die Zweckmäßigkeit, daß so eine Wahrheit treuer bewahrt <lb n="psc_114.017"/> werden kann, wird also den Forscher alter Zeit veranlassen, <lb n="psc_114.018"/> seine Sätze poetisch zu fassen. Aber außerdem wird <lb n="psc_114.019"/> die Macht, die ein Wissender mit seinem poetischen Wissen <lb n="psc_114.020"/> ausübt, größer durch die Association mit angenehmen Vorstellungen. <lb n="psc_114.021"/> Hier spielt in alter Zeit etwas, was wir noch <lb n="psc_114.022"/> heute beobachten können: wer eine Wahrheit in einer anmuthigen <lb n="psc_114.023"/> kunstmäßigen Form vorbringt oder sie in schwungvoller <lb n="psc_114.024"/> Sprache vorträgt, wirkt dadurch auf weitere Kreise, <lb n="psc_114.025"/> als wer es in abstruser Form thut. Wissen ist Macht in <lb n="psc_114.026"/> aller Zeit, und ein Wissender will seine Macht gebrauchen, <lb n="psc_114.027"/> indem er sein Wissen mittheilt; er hat ein Jnteresse hieran, <lb n="psc_114.028"/> und zum Theil beruht das Vergnügen, welches das Wissen </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [114/0130]
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Die Gründe für diese erregende Macht der Poesie sind psc_114.002
wohl ziemlich klar. Die Poesie ist durch Ursprung und psc_114.003
Tradition, durch jahrhundertelange Übung associirt mit angenehmen psc_114.004
Vorstellungen, die sie ursprünglich auf eine angenehme psc_114.005
Weise erweckt. Darauf beruht ihre Macht. Diese psc_114.006
Macht kann angewandt werden zu andern Zwecken.
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Wie die Poesie zu praktischen Zwecken benutzt, ja mißbraucht psc_114.008
werden kann, so wird sie auch zu Lehrzwecken benutzt, psc_114.009
wenn dem Wissenden daran gelegen ist, sein Wissen psc_114.010
zu verbreiten. Die Poesie wird immer ein Mittel gewähren, psc_114.011
eine neu gefundene Wahrheit leichter zu verbreiten. Dazu psc_114.012
kommt das Folgende: wer in schriftloser Zeit eine Wahrheit psc_114.013
in poetische, rhythmische, chorische Form faßte, übergab sie psc_114.014
damit dem Gedächtniß in einer für die Aufbewahrung zweckmäßigeren psc_114.015
Gestalt: man behält Verse leichter als Prosa. psc_114.016
Schon die Zweckmäßigkeit, daß so eine Wahrheit treuer bewahrt psc_114.017
werden kann, wird also den Forscher alter Zeit veranlassen, psc_114.018
seine Sätze poetisch zu fassen. Aber außerdem wird psc_114.019
die Macht, die ein Wissender mit seinem poetischen Wissen psc_114.020
ausübt, größer durch die Association mit angenehmen Vorstellungen. psc_114.021
Hier spielt in alter Zeit etwas, was wir noch psc_114.022
heute beobachten können: wer eine Wahrheit in einer anmuthigen psc_114.023
kunstmäßigen Form vorbringt oder sie in schwungvoller psc_114.024
Sprache vorträgt, wirkt dadurch auf weitere Kreise, psc_114.025
als wer es in abstruser Form thut. Wissen ist Macht in psc_114.026
aller Zeit, und ein Wissender will seine Macht gebrauchen, psc_114.027
indem er sein Wissen mittheilt; er hat ein Jnteresse hieran, psc_114.028
und zum Theil beruht das Vergnügen, welches das Wissen
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