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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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also, übertragen, die Katharsis besteht in der Befreiung psc_110.002
von gewissen Affecten mittelst der Anregung gewisser psc_110.003
Affecte (Überweg, Übers. S. 58). Also das Vergnügen, das psc_110.004
wir in der Anregung von Mitleid und Furcht finden sollen, psc_110.005
besteht darin, daß wir durch die Anregung der Affecte Mitleid psc_110.006
und Furcht befreit werden von eben diesen Affecten, daß psc_110.007
wir diese krankhaften Affecte verlieren, indem sie angeregt psc_110.008
werden. Und in dieser Befreiung eben besteht nach Aristoteles psc_110.009
das von den tragischen Gegenständen erregte Lustgefühl.

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Aristoteles sprach vermuthlich in den verlorenen Theilen psc_110.011
der Poetik, wie Bernays aus späteren, wahrscheinlichen, Anspielungen psc_110.012
der Neuplatoniker schloß, auch von kinesis ton psc_110.013
pathon ("Sollicitation der Affecte", Bernays S. 47) und psc_110.014
einer dadurch bewirkten aphosiosis ton pathon ("Abfindung psc_110.015
der Affecte"); er sprach auch von aperasis, wieder mit einem psc_110.016
medicinischen Ausdruck: "Abschöpfung einer überfließenden psc_110.017
Feuchtigkeit", also etwa "Ableitung" (ebd. S. 52).

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So weit scheint mir alles sicher und unzweifelhaft. Die psc_110.019
Zweifel beginnen bei der näheren Erklärung. Hierüber sind psc_110.020
unzählige Vermuthungen aufgestellt worden, zum Theil allerdings psc_110.021
rein subjectiv. Aber uns interessirt nicht so sehr die psc_110.022
Meinung des Aristoteles, als was für die Sache daraus zu psc_110.023
gewinnen. Und die verschiedenen Erklärungen des Aristoteles psc_110.024
sind ebenso viele Ansichten über die Wirkung der Tragödie. psc_110.025
Es fragt sich, ob dabei Momente auftauchen, die uns auf psc_110.026
unserem bisherigen Wege noch nicht begegnet sind.

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Mitleid und Furcht können im Einzelnen umstritten psc_110.028
werden; im Ganzen ist klar, um was es sich handeln muß:

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also, übertragen, die Katharsis besteht in der Befreiung psc_110.002
von gewissen Affecten mittelst der Anregung gewisser psc_110.003
Affecte (Überweg, Übers. S. 58). Also das Vergnügen, das psc_110.004
wir in der Anregung von Mitleid und Furcht finden sollen, psc_110.005
besteht darin, daß wir durch die Anregung der Affecte Mitleid psc_110.006
und Furcht befreit werden von eben diesen Affecten, daß psc_110.007
wir diese krankhaften Affecte verlieren, indem sie angeregt psc_110.008
werden. Und in dieser Befreiung eben besteht nach Aristoteles psc_110.009
das von den tragischen Gegenständen erregte Lustgefühl.

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  Aristoteles sprach vermuthlich in den verlorenen Theilen psc_110.011
der Poetik, wie Bernays aus späteren, wahrscheinlichen, Anspielungen psc_110.012
der Neuplatoniker schloß, auch von κίνησις τῶν psc_110.013
παθῶν („Sollicitation der Affecte“, Bernays S. 47) und psc_110.014
einer dadurch bewirkten ἀφοσίωσις τῶν παθῶν („Abfindung psc_110.015
der Affecte“); er sprach auch von ἀπέρασις, wieder mit einem psc_110.016
medicinischen Ausdruck: „Abschöpfung einer überfließenden psc_110.017
Feuchtigkeit“, also etwa „Ableitung“ (ebd. S. 52).

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  So weit scheint mir alles sicher und unzweifelhaft. Die psc_110.019
Zweifel beginnen bei der näheren Erklärung. Hierüber sind psc_110.020
unzählige Vermuthungen aufgestellt worden, zum Theil allerdings psc_110.021
rein subjectiv. Aber uns interessirt nicht so sehr die psc_110.022
Meinung des Aristoteles, als was für die Sache daraus zu psc_110.023
gewinnen. Und die verschiedenen Erklärungen des Aristoteles psc_110.024
sind ebenso viele Ansichten über die Wirkung der Tragödie. psc_110.025
Es fragt sich, ob dabei Momente auftauchen, die uns auf psc_110.026
unserem bisherigen Wege noch nicht begegnet sind.

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  Mitleid und Furcht können im Einzelnen umstritten psc_110.028
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[110/0126] psc_110.001 also, übertragen, die Katharsis besteht in der Befreiung psc_110.002 von gewissen Affecten mittelst der Anregung gewisser psc_110.003 Affecte (Überweg, Übers. S. 58). Also das Vergnügen, das psc_110.004 wir in der Anregung von Mitleid und Furcht finden sollen, psc_110.005 besteht darin, daß wir durch die Anregung der Affecte Mitleid psc_110.006 und Furcht befreit werden von eben diesen Affecten, daß psc_110.007 wir diese krankhaften Affecte verlieren, indem sie angeregt psc_110.008 werden. Und in dieser Befreiung eben besteht nach Aristoteles psc_110.009 das von den tragischen Gegenständen erregte Lustgefühl. psc_110.010   Aristoteles sprach vermuthlich in den verlorenen Theilen psc_110.011 der Poetik, wie Bernays aus späteren, wahrscheinlichen, Anspielungen psc_110.012 der Neuplatoniker schloß, auch von κίνησις τῶν psc_110.013 παθῶν („Sollicitation der Affecte“, Bernays S. 47) und psc_110.014 einer dadurch bewirkten ἀφοσίωσις τῶν παθῶν („Abfindung psc_110.015 der Affecte“); er sprach auch von ἀπέρασις, wieder mit einem psc_110.016 medicinischen Ausdruck: „Abschöpfung einer überfließenden psc_110.017 Feuchtigkeit“, also etwa „Ableitung“ (ebd. S. 52). psc_110.018   So weit scheint mir alles sicher und unzweifelhaft. Die psc_110.019 Zweifel beginnen bei der näheren Erklärung. Hierüber sind psc_110.020 unzählige Vermuthungen aufgestellt worden, zum Theil allerdings psc_110.021 rein subjectiv. Aber uns interessirt nicht so sehr die psc_110.022 Meinung des Aristoteles, als was für die Sache daraus zu psc_110.023 gewinnen. Und die verschiedenen Erklärungen des Aristoteles psc_110.024 sind ebenso viele Ansichten über die Wirkung der Tragödie. psc_110.025 Es fragt sich, ob dabei Momente auftauchen, die uns auf psc_110.026 unserem bisherigen Wege noch nicht begegnet sind. psc_110.027   Mitleid und Furcht können im Einzelnen umstritten psc_110.028 werden; im Ganzen ist klar, um was es sich handeln muß:

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/126>, abgerufen am 28.04.2024.