weil er Schritt vor Schritt an dem Verfall des römischen Staats die Wirkungen der Sittenlo¬ sigkeit und des Despotismus darstellt.
Die Modernen sind geneigt, den pragma¬ tischen Geist für das Höchste in der Historie zu halten und zieren sich selbst untereinander mit dem Prädicat desselben, als mit dem größten Lob. Aber eben wegen ihrer subjectiven Ab¬ hängigkeit wird Niemand, der Sinn hat, die Darstellungen der beyden angeführten Ge¬ schichtschreiber in den ersten Rang der Historie setzen. Bey den Deutschen hat es nun über¬ dieß mit dem pragmatischen Geist in der Regel die Bewandtniß, wie bey dem Famulus in Goe¬ the's Faust: "Was sie den Geist der Zeiten nen¬ nen, ist ihr eigner Geist, worinn die Zeiten sich bespiegeln." In Griechenland ergriffen die erhabensten, gereistesten, erfahrungsreichsten Geister den Griffel der Geschichte, um sie wie mit ewigen Charakteren zu schreiben. Herodo¬ tus ist ein wahrhaft Homerischer Kopf, im Thucydides concentrirt sich die ganze Bildung des Perikleischen Zeitalters zu einer gött¬
weil er Schritt vor Schritt an dem Verfall des roͤmiſchen Staats die Wirkungen der Sittenlo¬ ſigkeit und des Deſpotismus darſtellt.
Die Modernen ſind geneigt, den pragma¬ tiſchen Geiſt fuͤr das Hoͤchſte in der Hiſtorie zu halten und zieren ſich ſelbſt untereinander mit dem Praͤdicat deſſelben, als mit dem groͤßten Lob. Aber eben wegen ihrer ſubjectiven Ab¬ haͤngigkeit wird Niemand, der Sinn hat, die Darſtellungen der beyden angefuͤhrten Ge¬ ſchichtſchreiber in den erſten Rang der Hiſtorie ſetzen. Bey den Deutſchen hat es nun uͤber¬ dieß mit dem pragmatiſchen Geiſt in der Regel die Bewandtniß, wie bey dem Famulus in Goe¬ the's Fauſt: „Was ſie den Geiſt der Zeiten nen¬ nen, iſt ihr eigner Geiſt, worinn die Zeiten ſich beſpiegeln.“ In Griechenland ergriffen die erhabenſten, gereiſteſten, erfahrungsreichſten Geiſter den Griffel der Geſchichte, um ſie wie mit ewigen Charakteren zu ſchreiben. Herodo¬ tus iſt ein wahrhaft Homeriſcher Kopf, im Thucydides concentrirt ſich die ganze Bildung des Perikleiſchen Zeitalters zu einer goͤtt¬
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weil er Schritt vor Schritt an dem Verfall des
roͤmiſchen Staats die Wirkungen der Sittenlo¬
ſigkeit und des Deſpotismus darſtellt.
Die Modernen ſind geneigt, den pragma¬
tiſchen Geiſt fuͤr das Hoͤchſte in der Hiſtorie zu
halten und zieren ſich ſelbſt untereinander mit
dem Praͤdicat deſſelben, als mit dem groͤßten
Lob. Aber eben wegen ihrer ſubjectiven Ab¬
haͤngigkeit wird Niemand, der Sinn hat,
die Darſtellungen der beyden angefuͤhrten Ge¬
ſchichtſchreiber in den erſten Rang der Hiſtorie
ſetzen. Bey den Deutſchen hat es nun uͤber¬
dieß mit dem pragmatiſchen Geiſt in der Regel
die Bewandtniß, wie bey dem Famulus in Goe¬
the's Fauſt: „Was ſie den Geiſt der Zeiten nen¬
nen, iſt ihr eigner Geiſt, worinn die Zeiten
ſich beſpiegeln.“ In Griechenland ergriffen die
erhabenſten, gereiſteſten, erfahrungsreichſten
Geiſter den Griffel der Geſchichte, um ſie wie
mit ewigen Charakteren zu ſchreiben. Herodo¬
tus iſt ein wahrhaft Homeriſcher Kopf, im
Thucydides concentrirt ſich die ganze Bildung
des Perikleiſchen Zeitalters zu einer goͤtt¬
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Vorlesungen über die Methode des academischen Studium. Tübingen, 1803, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_methode_1803/226>, abgerufen am 22.11.2024.
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