Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Vorlesungen über die Methode des academischen Studium. Tübingen, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Mensch Christus ist in der Erscheinung nur
der Gipfel und in so fern auch wieder der
Anfang derselben, denn von ihm aus sollte
sie dadurch sich fortsetzen, daß alle seine Nach¬
folger Glieder eines und desselben Leibes wä¬
ren, von dem er das Haupt ist. Daß in
Christo zuerst Gott wahrhaft objectiv gewor¬
den, zeugt die Geschichte, denn wer vor
ihm hat das Unendliche auf solche Weise ge¬
offenbaret?

Es möchte sich beweisen lassen, daß so
weit die historische Kenntniß nur immer zu¬
rückgeht, schon zwey bestimmt verschiedene
Ströme von Religion und Poesie unterscheid¬
bar sind: der Eine, welcher, schon in der
Indischen Religion der herrschende, das In¬
tellectualsystem und den ältesten Idealismus
überliefert hat, der Andere, welcher die rea¬
listische Ansicht der Welt in sich faßte. Jener
hat, nachdem er durch den ganzen Orient
geflossen, im Christenthum sein bleibendes
Beet gefunden, und mit dem für sich unfrucht¬
baren Boden des Occidents vermischt, die

13

Menſch Chriſtus iſt in der Erſcheinung nur
der Gipfel und in ſo fern auch wieder der
Anfang derſelben, denn von ihm aus ſollte
ſie dadurch ſich fortſetzen, daß alle ſeine Nach¬
folger Glieder eines und deſſelben Leibes waͤ¬
ren, von dem er das Haupt iſt. Daß in
Chriſto zuerſt Gott wahrhaft objectiv gewor¬
den, zeugt die Geſchichte, denn wer vor
ihm hat das Unendliche auf ſolche Weiſe ge¬
offenbaret?

Es moͤchte ſich beweiſen laſſen, daß ſo
weit die hiſtoriſche Kenntniß nur immer zu¬
ruͤckgeht, ſchon zwey beſtimmt verſchiedene
Stroͤme von Religion und Poeſie unterſcheid¬
bar ſind: der Eine, welcher, ſchon in der
Indiſchen Religion der herrſchende, das In¬
tellectualſyſtem und den aͤlteſten Idealismus
uͤberliefert hat, der Andere, welcher die rea¬
liſtiſche Anſicht der Welt in ſich faßte. Jener
hat, nachdem er durch den ganzen Orient
gefloſſen, im Chriſtenthum ſein bleibendes
Beet gefunden, und mit dem fuͤr ſich unfrucht¬
baren Boden des Occidents vermiſcht, die

13
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0202" n="193"/>
Men&#x017F;ch Chri&#x017F;tus i&#x017F;t in der Er&#x017F;cheinung nur<lb/>
der Gipfel und in &#x017F;o fern auch wieder der<lb/>
Anfang der&#x017F;elben, denn von ihm aus &#x017F;ollte<lb/>
&#x017F;ie dadurch &#x017F;ich fort&#x017F;etzen, daß alle &#x017F;eine Nach¬<lb/>
folger Glieder eines und de&#x017F;&#x017F;elben Leibes wa&#x0364;¬<lb/>
ren, von dem er das Haupt i&#x017F;t. Daß in<lb/>
Chri&#x017F;to zuer&#x017F;t Gott wahrhaft objectiv gewor¬<lb/>
den, zeugt die Ge&#x017F;chichte, denn wer vor<lb/>
ihm hat das Unendliche auf &#x017F;olche Wei&#x017F;e ge¬<lb/>
offenbaret?</p><lb/>
        <p>Es mo&#x0364;chte &#x017F;ich bewei&#x017F;en la&#x017F;&#x017F;en, daß &#x017F;o<lb/>
weit die hi&#x017F;tori&#x017F;che Kenntniß nur immer zu¬<lb/>
ru&#x0364;ckgeht, &#x017F;chon zwey be&#x017F;timmt ver&#x017F;chiedene<lb/>
Stro&#x0364;me von Religion und Poe&#x017F;ie unter&#x017F;cheid¬<lb/>
bar &#x017F;ind: der Eine, welcher, &#x017F;chon in der<lb/>
Indi&#x017F;chen Religion der herr&#x017F;chende, das In¬<lb/>
tellectual&#x017F;y&#x017F;tem und den a&#x0364;lte&#x017F;ten Idealismus<lb/>
u&#x0364;berliefert hat, der Andere, welcher die rea¬<lb/>
li&#x017F;ti&#x017F;che An&#x017F;icht der Welt in &#x017F;ich faßte. Jener<lb/>
hat, nachdem er durch den ganzen Orient<lb/>
geflo&#x017F;&#x017F;en, im Chri&#x017F;tenthum &#x017F;ein bleibendes<lb/>
Beet gefunden, und mit dem fu&#x0364;r &#x017F;ich unfrucht¬<lb/>
baren Boden des Occidents vermi&#x017F;cht, die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">13<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[193/0202] Menſch Chriſtus iſt in der Erſcheinung nur der Gipfel und in ſo fern auch wieder der Anfang derſelben, denn von ihm aus ſollte ſie dadurch ſich fortſetzen, daß alle ſeine Nach¬ folger Glieder eines und deſſelben Leibes waͤ¬ ren, von dem er das Haupt iſt. Daß in Chriſto zuerſt Gott wahrhaft objectiv gewor¬ den, zeugt die Geſchichte, denn wer vor ihm hat das Unendliche auf ſolche Weiſe ge¬ offenbaret? Es moͤchte ſich beweiſen laſſen, daß ſo weit die hiſtoriſche Kenntniß nur immer zu¬ ruͤckgeht, ſchon zwey beſtimmt verſchiedene Stroͤme von Religion und Poeſie unterſcheid¬ bar ſind: der Eine, welcher, ſchon in der Indiſchen Religion der herrſchende, das In¬ tellectualſyſtem und den aͤlteſten Idealismus uͤberliefert hat, der Andere, welcher die rea¬ liſtiſche Anſicht der Welt in ſich faßte. Jener hat, nachdem er durch den ganzen Orient gefloſſen, im Chriſtenthum ſein bleibendes Beet gefunden, und mit dem fuͤr ſich unfrucht¬ baren Boden des Occidents vermiſcht, die 13

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_methode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_methode_1803/202
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Vorlesungen über die Methode des academischen Studium. Tübingen, 1803, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_methode_1803/202>, abgerufen am 02.05.2024.