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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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materielle Unendlichkeit, die das organische Wesen auszeichnet. Bildung
quillt aus Bildung hervor, ins Unendliche nicht nur theilbar, sondern
wirklich getheilt. Nirgends tritt das Unendliche als unendlich hervor,
es ist überall da, aber nur in dem Gegenstand -- dem Stoff verbun-
den --, nirgends in der Reflexion des Dichters z. B. in den homeri-
schen Gesängen. Unendliches und Endliches ruhen noch unter einer
gemeinschaftlichen Hülle. Gegenüber von der Natur ist jede ihrer Ge-
stalten ideal-unendlich, in der Beziehung auf die Kunst selbst aber durch-
aus real-begrenzt und endlich. Daher die gänzliche Abwesenheit aller
sittlichen Begriffe in der Mythologie, sofern sie die Götter betrifft.
Diese sind organische Wesen einer höheren, einer absoluten, durchaus
idealistischen Natur. Sie handeln durchaus als solche, immer ihrer
Begrenzung gemäß, und darum wieder absolut. Selbst die sittlichsten
Götter, wie Themis, sind doch sittlich nicht aus Sittlichkeit, sondern
bei ihnen gehört auch dieses wieder zur Begrenzung. Sittlichkeit ist
wie Krankheit und Tod allein den Sterblichen anheim gefallen, und in
diesen kann sie sich in Beziehung auf die Götter nur als Empörung
gegen diese äußern. Prometheus ist das Urbild der Sittlichkeit, welches
die alte Mythologie aufstellt. Er ist das allgemeine Symbol desjenigen
Verhältnisses, welches die Sittlichkeit in ihr hat. Darum, weil in ihm
die Freiheit sich als Unabhängigkeit von den Göttern äußert, wird er
an den Felsen geschmiedet, ewig heimgesucht von dem von Jupiter ge-
sandten Geier, der seine immer wieder wachsende Leber nagt. So
repräsentirt er das ganze menschliche Geschlecht, und duldet in seiner
Person die Qualen der ganzen Gattung. Hier tritt also das Unend-
liche allerdings hervor, aber in seinem Hervortreten unmittelbar wieder
gefesselt, zurückgehalten und begrenzt. Ebenso wie in der alten Tra-
gödie, wo die höchste Sittlichkeit in der Anerkennung der Schranken
und der Begrenzung liegt, die dem menschlichen Geschlecht gesetzt ist 1.

Wenn alle Gegensätze überhaupt nur auf einem Ueberwiegen des
Einen, niemals auf einem gänzlichen Ausschließen des Entgegengesetzten

1 Man vergl. die spätere Gestaltung dieser Gedanken über Prometheus in der
Einleitung in die Philosophie der Mythologie, 23 Vorlesung. D. H.

materielle Unendlichkeit, die das organiſche Weſen auszeichnet. Bildung
quillt aus Bildung hervor, ins Unendliche nicht nur theilbar, ſondern
wirklich getheilt. Nirgends tritt das Unendliche als unendlich hervor,
es iſt überall da, aber nur in dem Gegenſtand — dem Stoff verbun-
den —, nirgends in der Reflexion des Dichters z. B. in den homeri-
ſchen Geſängen. Unendliches und Endliches ruhen noch unter einer
gemeinſchaftlichen Hülle. Gegenüber von der Natur iſt jede ihrer Ge-
ſtalten ideal-unendlich, in der Beziehung auf die Kunſt ſelbſt aber durch-
aus real-begrenzt und endlich. Daher die gänzliche Abweſenheit aller
ſittlichen Begriffe in der Mythologie, ſofern ſie die Götter betrifft.
Dieſe ſind organiſche Weſen einer höheren, einer abſoluten, durchaus
idealiſtiſchen Natur. Sie handeln durchaus als ſolche, immer ihrer
Begrenzung gemäß, und darum wieder abſolut. Selbſt die ſittlichſten
Götter, wie Themis, ſind doch ſittlich nicht aus Sittlichkeit, ſondern
bei ihnen gehört auch dieſes wieder zur Begrenzung. Sittlichkeit iſt
wie Krankheit und Tod allein den Sterblichen anheim gefallen, und in
dieſen kann ſie ſich in Beziehung auf die Götter nur als Empörung
gegen dieſe äußern. Prometheus iſt das Urbild der Sittlichkeit, welches
die alte Mythologie aufſtellt. Er iſt das allgemeine Symbol desjenigen
Verhältniſſes, welches die Sittlichkeit in ihr hat. Darum, weil in ihm
die Freiheit ſich als Unabhängigkeit von den Göttern äußert, wird er
an den Felſen geſchmiedet, ewig heimgeſucht von dem von Jupiter ge-
ſandten Geier, der ſeine immer wieder wachſende Leber nagt. So
repräſentirt er das ganze menſchliche Geſchlecht, und duldet in ſeiner
Perſon die Qualen der ganzen Gattung. Hier tritt alſo das Unend-
liche allerdings hervor, aber in ſeinem Hervortreten unmittelbar wieder
gefeſſelt, zurückgehalten und begrenzt. Ebenſo wie in der alten Tra-
gödie, wo die höchſte Sittlichkeit in der Anerkennung der Schranken
und der Begrenzung liegt, die dem menſchlichen Geſchlecht geſetzt iſt 1.

Wenn alle Gegenſätze überhaupt nur auf einem Ueberwiegen des
Einen, niemals auf einem gänzlichen Ausſchließen des Entgegengeſetzten

1 Man vergl. die ſpätere Geſtaltung dieſer Gedanken über Prometheus in der
Einleitung in die Philoſophie der Mythologie, 23 Vorleſung. D. H.
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[420/0096] materielle Unendlichkeit, die das organiſche Weſen auszeichnet. Bildung quillt aus Bildung hervor, ins Unendliche nicht nur theilbar, ſondern wirklich getheilt. Nirgends tritt das Unendliche als unendlich hervor, es iſt überall da, aber nur in dem Gegenſtand — dem Stoff verbun- den —, nirgends in der Reflexion des Dichters z. B. in den homeri- ſchen Geſängen. Unendliches und Endliches ruhen noch unter einer gemeinſchaftlichen Hülle. Gegenüber von der Natur iſt jede ihrer Ge- ſtalten ideal-unendlich, in der Beziehung auf die Kunſt ſelbſt aber durch- aus real-begrenzt und endlich. Daher die gänzliche Abweſenheit aller ſittlichen Begriffe in der Mythologie, ſofern ſie die Götter betrifft. Dieſe ſind organiſche Weſen einer höheren, einer abſoluten, durchaus idealiſtiſchen Natur. Sie handeln durchaus als ſolche, immer ihrer Begrenzung gemäß, und darum wieder abſolut. Selbſt die ſittlichſten Götter, wie Themis, ſind doch ſittlich nicht aus Sittlichkeit, ſondern bei ihnen gehört auch dieſes wieder zur Begrenzung. Sittlichkeit iſt wie Krankheit und Tod allein den Sterblichen anheim gefallen, und in dieſen kann ſie ſich in Beziehung auf die Götter nur als Empörung gegen dieſe äußern. Prometheus iſt das Urbild der Sittlichkeit, welches die alte Mythologie aufſtellt. Er iſt das allgemeine Symbol desjenigen Verhältniſſes, welches die Sittlichkeit in ihr hat. Darum, weil in ihm die Freiheit ſich als Unabhängigkeit von den Göttern äußert, wird er an den Felſen geſchmiedet, ewig heimgeſucht von dem von Jupiter ge- ſandten Geier, der ſeine immer wieder wachſende Leber nagt. So repräſentirt er das ganze menſchliche Geſchlecht, und duldet in ſeiner Perſon die Qualen der ganzen Gattung. Hier tritt alſo das Unend- liche allerdings hervor, aber in ſeinem Hervortreten unmittelbar wieder gefeſſelt, zurückgehalten und begrenzt. Ebenſo wie in der alten Tra- gödie, wo die höchſte Sittlichkeit in der Anerkennung der Schranken und der Begrenzung liegt, die dem menſchlichen Geſchlecht geſetzt iſt 1. Wenn alle Gegenſätze überhaupt nur auf einem Ueberwiegen des Einen, niemals auf einem gänzlichen Ausſchließen des Entgegengeſetzten 1 Man vergl. die ſpätere Geſtaltung dieſer Gedanken über Prometheus in der Einleitung in die Philoſophie der Mythologie, 23 Vorleſung. D. H.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/96>, abgerufen am 24.11.2024.