Anblick und die genauere Betrachtung der griechischen Mythologie muß jeden, der dafür Sinn hat, überzeugen, daß diese Mythologie in der Sphäre der Kunst selbst die Natur wiederbringe, aber die Construktion bezeichnet zum voraus und mit Nothwendigkeit diese Stelle im allge- meinen Zusammenhang, welche sie einnimmt.
Das Princip der Construktion ist, in einem andern und höhern Sinn, das der alten Physik, daß die Natur einen Abscheu vor der Leere hat. Wo demnach im Universum eine leere Stelle ist, füllt sie die Natur aus. Weniger bildlich ausgedrückt: keine Möglich- keit ist im Universum unerfüllt, alles Mögliche ist wirklich. Da das Universum Eins ist, untheilbar, so kann es sich in nichts ergießen, ohne sich ganz darein zu ergießen. Es ist kein Universum der Poesie, ohne daß auch in ihm wieder Natur und Freiheit sich entgegenstehen. Wer unsere Behauptung von der griechischen Mythologie als einem Werk der Natur so verstehen wollte, als wäre sie es auf eine eben so blinde Weise, als es die Hervorbringungen des Kunsttriebs der Thiere sind, würde sie freilich ganz roh verstehen. Aber nicht weniger würde derjenige von der Wahrheit abirren, der sie als ein Werk absolut- poetischer Freiheit denken wollte.
Ich habe die Hauptzüge schon angegeben, durch welche die grie- chische Mythologie sich innerhalb der Kunstwelt wieder als die orga- nische Natur darstellt. Es ist schon vielmals bemerkt worden, welche Flucht vor dem Formlosen, dem Unbegrenzbaren in ihr herrschend ist. Wie das Organische ins Unendliche zurück nur aus dem Organischen entstehen kann, so auch hier nichts ohne Zeugung, nichts aus dem Formlosen, dem Unendlichen für sich, sondern immer aus dem schon Gebildeten. Der Unendlichkeit unerachtet, welche die griechische My- thologie noch immer hat, zeigt sie doch nach außen sich durchaus als endlich, vollendet, ihrem ganzen Wesen nach als realistisch. Das Un- endliche zeigt sich hier auf der höheren Stufe wieder ebenso wie im Organismus unmittelbar dem Stoffe verbunden; deßwegen ist, inner- halb dieses Ganzen, alle Bildung eine nothwendige, und betrachtet man es als Ein organisches Wesen, so hat es nach innen wirklich die
Anblick und die genauere Betrachtung der griechiſchen Mythologie muß jeden, der dafür Sinn hat, überzeugen, daß dieſe Mythologie in der Sphäre der Kunſt ſelbſt die Natur wiederbringe, aber die Conſtruktion bezeichnet zum voraus und mit Nothwendigkeit dieſe Stelle im allge- meinen Zuſammenhang, welche ſie einnimmt.
Das Princip der Conſtruktion iſt, in einem andern und höhern Sinn, das der alten Phyſik, daß die Natur einen Abſcheu vor der Leere hat. Wo demnach im Univerſum eine leere Stelle iſt, füllt ſie die Natur aus. Weniger bildlich ausgedrückt: keine Möglich- keit iſt im Univerſum unerfüllt, alles Mögliche iſt wirklich. Da das Univerſum Eins iſt, untheilbar, ſo kann es ſich in nichts ergießen, ohne ſich ganz darein zu ergießen. Es iſt kein Univerſum der Poeſie, ohne daß auch in ihm wieder Natur und Freiheit ſich entgegenſtehen. Wer unſere Behauptung von der griechiſchen Mythologie als einem Werk der Natur ſo verſtehen wollte, als wäre ſie es auf eine eben ſo blinde Weiſe, als es die Hervorbringungen des Kunſttriebs der Thiere ſind, würde ſie freilich ganz roh verſtehen. Aber nicht weniger würde derjenige von der Wahrheit abirren, der ſie als ein Werk abſolut- poetiſcher Freiheit denken wollte.
Ich habe die Hauptzüge ſchon angegeben, durch welche die grie- chiſche Mythologie ſich innerhalb der Kunſtwelt wieder als die orga- niſche Natur darſtellt. Es iſt ſchon vielmals bemerkt worden, welche Flucht vor dem Formloſen, dem Unbegrenzbaren in ihr herrſchend iſt. Wie das Organiſche ins Unendliche zurück nur aus dem Organiſchen entſtehen kann, ſo auch hier nichts ohne Zeugung, nichts aus dem Formloſen, dem Unendlichen für ſich, ſondern immer aus dem ſchon Gebildeten. Der Unendlichkeit unerachtet, welche die griechiſche My- thologie noch immer hat, zeigt ſie doch nach außen ſich durchaus als endlich, vollendet, ihrem ganzen Weſen nach als realiſtiſch. Das Un- endliche zeigt ſich hier auf der höheren Stufe wieder ebenſo wie im Organismus unmittelbar dem Stoffe verbunden; deßwegen iſt, inner- halb dieſes Ganzen, alle Bildung eine nothwendige, und betrachtet man es als Ein organiſches Weſen, ſo hat es nach innen wirklich die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0095"n="419"/>
Anblick und die genauere Betrachtung der griechiſchen Mythologie muß<lb/>
jeden, der dafür Sinn hat, überzeugen, daß dieſe Mythologie in der<lb/>
Sphäre der Kunſt ſelbſt die Natur wiederbringe, aber die Conſtruktion<lb/>
bezeichnet zum voraus und mit Nothwendigkeit dieſe Stelle im allge-<lb/>
meinen Zuſammenhang, welche ſie einnimmt.</p><lb/><p>Das Princip der Conſtruktion iſt, in einem andern und höhern<lb/>
Sinn, das der alten Phyſik, <hirendition="#g">daß die Natur einen Abſcheu vor<lb/>
der Leere hat</hi>. Wo demnach im Univerſum eine leere Stelle iſt,<lb/>
füllt ſie die Natur aus. Weniger bildlich ausgedrückt: keine Möglich-<lb/>
keit iſt im Univerſum unerfüllt, alles Mögliche iſt wirklich. Da das<lb/>
Univerſum Eins iſt, untheilbar, ſo kann es ſich in nichts ergießen, ohne<lb/>ſich ganz darein zu ergießen. Es iſt kein Univerſum der Poeſie, ohne<lb/>
daß auch in ihm wieder <hirendition="#g">Natur</hi> und <hirendition="#g">Freiheit</hi>ſich entgegenſtehen.<lb/>
Wer unſere Behauptung von der griechiſchen Mythologie als einem<lb/>
Werk der Natur ſo verſtehen wollte, als wäre ſie es auf eine eben ſo<lb/>
blinde Weiſe, als es die Hervorbringungen des Kunſttriebs der Thiere<lb/>ſind, würde ſie freilich ganz roh verſtehen. Aber nicht weniger würde<lb/>
derjenige von der Wahrheit abirren, der ſie als ein Werk abſolut-<lb/>
poetiſcher Freiheit denken wollte.</p><lb/><p>Ich habe die Hauptzüge ſchon angegeben, durch welche die grie-<lb/>
chiſche Mythologie ſich innerhalb der Kunſtwelt wieder als die orga-<lb/>
niſche Natur darſtellt. Es iſt ſchon vielmals bemerkt worden, welche<lb/>
Flucht vor dem Formloſen, dem Unbegrenzbaren in ihr herrſchend iſt.<lb/>
Wie das Organiſche ins Unendliche zurück nur aus dem Organiſchen<lb/>
entſtehen kann, ſo auch hier nichts ohne Zeugung, nichts aus dem<lb/>
Formloſen, dem Unendlichen für ſich, ſondern immer aus dem ſchon<lb/>
Gebildeten. Der Unendlichkeit unerachtet, welche die griechiſche My-<lb/>
thologie noch immer hat, zeigt ſie doch nach außen ſich durchaus als<lb/>
endlich, vollendet, ihrem ganzen Weſen nach als realiſtiſch. Das Un-<lb/>
endliche zeigt ſich hier auf der höheren Stufe wieder ebenſo wie im<lb/>
Organismus unmittelbar dem Stoffe verbunden; deßwegen iſt, inner-<lb/>
halb dieſes Ganzen, alle Bildung eine nothwendige, und betrachtet man<lb/>
es als Ein organiſches Weſen, ſo hat es nach innen wirklich die<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[419/0095]
Anblick und die genauere Betrachtung der griechiſchen Mythologie muß
jeden, der dafür Sinn hat, überzeugen, daß dieſe Mythologie in der
Sphäre der Kunſt ſelbſt die Natur wiederbringe, aber die Conſtruktion
bezeichnet zum voraus und mit Nothwendigkeit dieſe Stelle im allge-
meinen Zuſammenhang, welche ſie einnimmt.
Das Princip der Conſtruktion iſt, in einem andern und höhern
Sinn, das der alten Phyſik, daß die Natur einen Abſcheu vor
der Leere hat. Wo demnach im Univerſum eine leere Stelle iſt,
füllt ſie die Natur aus. Weniger bildlich ausgedrückt: keine Möglich-
keit iſt im Univerſum unerfüllt, alles Mögliche iſt wirklich. Da das
Univerſum Eins iſt, untheilbar, ſo kann es ſich in nichts ergießen, ohne
ſich ganz darein zu ergießen. Es iſt kein Univerſum der Poeſie, ohne
daß auch in ihm wieder Natur und Freiheit ſich entgegenſtehen.
Wer unſere Behauptung von der griechiſchen Mythologie als einem
Werk der Natur ſo verſtehen wollte, als wäre ſie es auf eine eben ſo
blinde Weiſe, als es die Hervorbringungen des Kunſttriebs der Thiere
ſind, würde ſie freilich ganz roh verſtehen. Aber nicht weniger würde
derjenige von der Wahrheit abirren, der ſie als ein Werk abſolut-
poetiſcher Freiheit denken wollte.
Ich habe die Hauptzüge ſchon angegeben, durch welche die grie-
chiſche Mythologie ſich innerhalb der Kunſtwelt wieder als die orga-
niſche Natur darſtellt. Es iſt ſchon vielmals bemerkt worden, welche
Flucht vor dem Formloſen, dem Unbegrenzbaren in ihr herrſchend iſt.
Wie das Organiſche ins Unendliche zurück nur aus dem Organiſchen
entſtehen kann, ſo auch hier nichts ohne Zeugung, nichts aus dem
Formloſen, dem Unendlichen für ſich, ſondern immer aus dem ſchon
Gebildeten. Der Unendlichkeit unerachtet, welche die griechiſche My-
thologie noch immer hat, zeigt ſie doch nach außen ſich durchaus als
endlich, vollendet, ihrem ganzen Weſen nach als realiſtiſch. Das Un-
endliche zeigt ſich hier auf der höheren Stufe wieder ebenſo wie im
Organismus unmittelbar dem Stoffe verbunden; deßwegen iſt, inner-
halb dieſes Ganzen, alle Bildung eine nothwendige, und betrachtet man
es als Ein organiſches Weſen, ſo hat es nach innen wirklich die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/95>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.