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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Anblick und die genauere Betrachtung der griechischen Mythologie muß
jeden, der dafür Sinn hat, überzeugen, daß diese Mythologie in der
Sphäre der Kunst selbst die Natur wiederbringe, aber die Construktion
bezeichnet zum voraus und mit Nothwendigkeit diese Stelle im allge-
meinen Zusammenhang, welche sie einnimmt.

Das Princip der Construktion ist, in einem andern und höhern
Sinn, das der alten Physik, daß die Natur einen Abscheu vor
der Leere hat
. Wo demnach im Universum eine leere Stelle ist,
füllt sie die Natur aus. Weniger bildlich ausgedrückt: keine Möglich-
keit ist im Universum unerfüllt, alles Mögliche ist wirklich. Da das
Universum Eins ist, untheilbar, so kann es sich in nichts ergießen, ohne
sich ganz darein zu ergießen. Es ist kein Universum der Poesie, ohne
daß auch in ihm wieder Natur und Freiheit sich entgegenstehen.
Wer unsere Behauptung von der griechischen Mythologie als einem
Werk der Natur so verstehen wollte, als wäre sie es auf eine eben so
blinde Weise, als es die Hervorbringungen des Kunsttriebs der Thiere
sind, würde sie freilich ganz roh verstehen. Aber nicht weniger würde
derjenige von der Wahrheit abirren, der sie als ein Werk absolut-
poetischer Freiheit denken wollte.

Ich habe die Hauptzüge schon angegeben, durch welche die grie-
chische Mythologie sich innerhalb der Kunstwelt wieder als die orga-
nische Natur darstellt. Es ist schon vielmals bemerkt worden, welche
Flucht vor dem Formlosen, dem Unbegrenzbaren in ihr herrschend ist.
Wie das Organische ins Unendliche zurück nur aus dem Organischen
entstehen kann, so auch hier nichts ohne Zeugung, nichts aus dem
Formlosen, dem Unendlichen für sich, sondern immer aus dem schon
Gebildeten. Der Unendlichkeit unerachtet, welche die griechische My-
thologie noch immer hat, zeigt sie doch nach außen sich durchaus als
endlich, vollendet, ihrem ganzen Wesen nach als realistisch. Das Un-
endliche zeigt sich hier auf der höheren Stufe wieder ebenso wie im
Organismus unmittelbar dem Stoffe verbunden; deßwegen ist, inner-
halb dieses Ganzen, alle Bildung eine nothwendige, und betrachtet man
es als Ein organisches Wesen, so hat es nach innen wirklich die

Anblick und die genauere Betrachtung der griechiſchen Mythologie muß
jeden, der dafür Sinn hat, überzeugen, daß dieſe Mythologie in der
Sphäre der Kunſt ſelbſt die Natur wiederbringe, aber die Conſtruktion
bezeichnet zum voraus und mit Nothwendigkeit dieſe Stelle im allge-
meinen Zuſammenhang, welche ſie einnimmt.

Das Princip der Conſtruktion iſt, in einem andern und höhern
Sinn, das der alten Phyſik, daß die Natur einen Abſcheu vor
der Leere hat
. Wo demnach im Univerſum eine leere Stelle iſt,
füllt ſie die Natur aus. Weniger bildlich ausgedrückt: keine Möglich-
keit iſt im Univerſum unerfüllt, alles Mögliche iſt wirklich. Da das
Univerſum Eins iſt, untheilbar, ſo kann es ſich in nichts ergießen, ohne
ſich ganz darein zu ergießen. Es iſt kein Univerſum der Poeſie, ohne
daß auch in ihm wieder Natur und Freiheit ſich entgegenſtehen.
Wer unſere Behauptung von der griechiſchen Mythologie als einem
Werk der Natur ſo verſtehen wollte, als wäre ſie es auf eine eben ſo
blinde Weiſe, als es die Hervorbringungen des Kunſttriebs der Thiere
ſind, würde ſie freilich ganz roh verſtehen. Aber nicht weniger würde
derjenige von der Wahrheit abirren, der ſie als ein Werk abſolut-
poetiſcher Freiheit denken wollte.

Ich habe die Hauptzüge ſchon angegeben, durch welche die grie-
chiſche Mythologie ſich innerhalb der Kunſtwelt wieder als die orga-
niſche Natur darſtellt. Es iſt ſchon vielmals bemerkt worden, welche
Flucht vor dem Formloſen, dem Unbegrenzbaren in ihr herrſchend iſt.
Wie das Organiſche ins Unendliche zurück nur aus dem Organiſchen
entſtehen kann, ſo auch hier nichts ohne Zeugung, nichts aus dem
Formloſen, dem Unendlichen für ſich, ſondern immer aus dem ſchon
Gebildeten. Der Unendlichkeit unerachtet, welche die griechiſche My-
thologie noch immer hat, zeigt ſie doch nach außen ſich durchaus als
endlich, vollendet, ihrem ganzen Weſen nach als realiſtiſch. Das Un-
endliche zeigt ſich hier auf der höheren Stufe wieder ebenſo wie im
Organismus unmittelbar dem Stoffe verbunden; deßwegen iſt, inner-
halb dieſes Ganzen, alle Bildung eine nothwendige, und betrachtet man
es als Ein organiſches Weſen, ſo hat es nach innen wirklich die

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[419/0095] Anblick und die genauere Betrachtung der griechiſchen Mythologie muß jeden, der dafür Sinn hat, überzeugen, daß dieſe Mythologie in der Sphäre der Kunſt ſelbſt die Natur wiederbringe, aber die Conſtruktion bezeichnet zum voraus und mit Nothwendigkeit dieſe Stelle im allge- meinen Zuſammenhang, welche ſie einnimmt. Das Princip der Conſtruktion iſt, in einem andern und höhern Sinn, das der alten Phyſik, daß die Natur einen Abſcheu vor der Leere hat. Wo demnach im Univerſum eine leere Stelle iſt, füllt ſie die Natur aus. Weniger bildlich ausgedrückt: keine Möglich- keit iſt im Univerſum unerfüllt, alles Mögliche iſt wirklich. Da das Univerſum Eins iſt, untheilbar, ſo kann es ſich in nichts ergießen, ohne ſich ganz darein zu ergießen. Es iſt kein Univerſum der Poeſie, ohne daß auch in ihm wieder Natur und Freiheit ſich entgegenſtehen. Wer unſere Behauptung von der griechiſchen Mythologie als einem Werk der Natur ſo verſtehen wollte, als wäre ſie es auf eine eben ſo blinde Weiſe, als es die Hervorbringungen des Kunſttriebs der Thiere ſind, würde ſie freilich ganz roh verſtehen. Aber nicht weniger würde derjenige von der Wahrheit abirren, der ſie als ein Werk abſolut- poetiſcher Freiheit denken wollte. Ich habe die Hauptzüge ſchon angegeben, durch welche die grie- chiſche Mythologie ſich innerhalb der Kunſtwelt wieder als die orga- niſche Natur darſtellt. Es iſt ſchon vielmals bemerkt worden, welche Flucht vor dem Formloſen, dem Unbegrenzbaren in ihr herrſchend iſt. Wie das Organiſche ins Unendliche zurück nur aus dem Organiſchen entſtehen kann, ſo auch hier nichts ohne Zeugung, nichts aus dem Formloſen, dem Unendlichen für ſich, ſondern immer aus dem ſchon Gebildeten. Der Unendlichkeit unerachtet, welche die griechiſche My- thologie noch immer hat, zeigt ſie doch nach außen ſich durchaus als endlich, vollendet, ihrem ganzen Weſen nach als realiſtiſch. Das Un- endliche zeigt ſich hier auf der höheren Stufe wieder ebenſo wie im Organismus unmittelbar dem Stoffe verbunden; deßwegen iſt, inner- halb dieſes Ganzen, alle Bildung eine nothwendige, und betrachtet man es als Ein organiſches Weſen, ſo hat es nach innen wirklich die

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/95>, abgerufen am 24.11.2024.