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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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O theurer Sohn des Aegeus, nur den Göttern ist
Gegeben nie zu altern noch zu sterben je;
Das andre alles aber mischt die Macht der Zeit.
Die Kraft der Erde schwindet, auch die Kraft des Leibs,
Es welkt dahin der Glaube, Untreu blühet auf.

Die Tragödie wie das epische Gedicht ist voll dieses Gegensatzes.
Wir können die Nothwendigkeit dieses Attributs der Götter unmittelbar
aus dem Princip einsehen, aus dem sie überhaupt begriffen werden,
nämlich: als absolute Wesen besondere und als besondere
absolute zu seyn
. -- Daß überhaupt Sittlichkeit nichts Höchstes
sey, nichts also, was Göttern zugeschrieben werden könnte, erhellt aus
dem Gegensatz, den sie an der Glückseligkeit hat, und in dem eigentlich
alles Endliche befangen ist. Wie Sittlichkeit Aufnahme des Endlichen
oder Besonderen ins Unendliche, so Seligkeit Aufnahme des Unendlichen
ins Endliche oder Besondere. In der ersten, wo das Besondere ins
Allgemeine aufgenommen wird, unterliegt das Besondere dem Gesetz
als dem Allgemeinen, es verhält sich wie der Körper, der der Schwere
gehorcht 1. Die Götter, in deren Natur beide Einheiten vereinigt sind,
leben eben deßwegen kein abhängiges und bedingtes, sondern ein freies
und unabhängiges Leben, sie genießen als besondere gleichwohl die
Seligkeit des Absoluten, und umgekehrt (Streben nach Seligkeit = Stre-
ben, der Absolutheit als ein Besonderes zu genießen), ein Verhältniß,
wovon nur etwa an den Weltkörpern, als den ersten sinnlichen Bildern
der Götter, ein Beispiel, die zugleich als besondere absolut -- in sich
selbst --, und hinwiederum in ihrer Absolutheit besondere, und dem-
nach zugleich außer dem Centro und im Centro sind. Insofern nun
beide Einheiten in ihrer Absolutheit einander in sich schließen, weil das
Besondere nicht absolut seyn kann, ohne eben dadurch auch wieder im
Absoluten zu seyn, und inwiefern in diesem Betracht Seligkeit und
Sittlichkeit wieder ein und dasselbe sind, kann man auch sagen, die
Götter seyen eben deßwegen absolut sittlich, weil sie absolut selig sind.

§. 33. Das Grundgesetz aller Götterbildungen ist

1 Vgl. Philosophie und Religion, S. 61. D. H.
O theurer Sohn des Aegeus, nur den Göttern iſt
Gegeben nie zu altern noch zu ſterben je;
Das andre alles aber miſcht die Macht der Zeit.
Die Kraft der Erde ſchwindet, auch die Kraft des Leibs,
Es welkt dahin der Glaube, Untreu blühet auf.

Die Tragödie wie das epiſche Gedicht iſt voll dieſes Gegenſatzes.
Wir können die Nothwendigkeit dieſes Attributs der Götter unmittelbar
aus dem Princip einſehen, aus dem ſie überhaupt begriffen werden,
nämlich: als abſolute Weſen beſondere und als beſondere
abſolute zu ſeyn
. — Daß überhaupt Sittlichkeit nichts Höchſtes
ſey, nichts alſo, was Göttern zugeſchrieben werden könnte, erhellt aus
dem Gegenſatz, den ſie an der Glückſeligkeit hat, und in dem eigentlich
alles Endliche befangen iſt. Wie Sittlichkeit Aufnahme des Endlichen
oder Beſonderen ins Unendliche, ſo Seligkeit Aufnahme des Unendlichen
ins Endliche oder Beſondere. In der erſten, wo das Beſondere ins
Allgemeine aufgenommen wird, unterliegt das Beſondere dem Geſetz
als dem Allgemeinen, es verhält ſich wie der Körper, der der Schwere
gehorcht 1. Die Götter, in deren Natur beide Einheiten vereinigt ſind,
leben eben deßwegen kein abhängiges und bedingtes, ſondern ein freies
und unabhängiges Leben, ſie genießen als beſondere gleichwohl die
Seligkeit des Abſoluten, und umgekehrt (Streben nach Seligkeit = Stre-
ben, der Abſolutheit als ein Beſonderes zu genießen), ein Verhältniß,
wovon nur etwa an den Weltkörpern, als den erſten ſinnlichen Bildern
der Götter, ein Beiſpiel, die zugleich als beſondere abſolut — in ſich
ſelbſt —, und hinwiederum in ihrer Abſolutheit beſondere, und dem-
nach zugleich außer dem Centro und im Centro ſind. Inſofern nun
beide Einheiten in ihrer Abſolutheit einander in ſich ſchließen, weil das
Beſondere nicht abſolut ſeyn kann, ohne eben dadurch auch wieder im
Abſoluten zu ſeyn, und inwiefern in dieſem Betracht Seligkeit und
Sittlichkeit wieder ein und daſſelbe ſind, kann man auch ſagen, die
Götter ſeyen eben deßwegen abſolut ſittlich, weil ſie abſolut ſelig ſind.

§. 33. Das Grundgeſetz aller Götterbildungen iſt

1 Vgl. Philoſophie und Religion, S. 61. D. H.
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[397/0073] O theurer Sohn des Aegeus, nur den Göttern iſt Gegeben nie zu altern noch zu ſterben je; Das andre alles aber miſcht die Macht der Zeit. Die Kraft der Erde ſchwindet, auch die Kraft des Leibs, Es welkt dahin der Glaube, Untreu blühet auf. Die Tragödie wie das epiſche Gedicht iſt voll dieſes Gegenſatzes. Wir können die Nothwendigkeit dieſes Attributs der Götter unmittelbar aus dem Princip einſehen, aus dem ſie überhaupt begriffen werden, nämlich: als abſolute Weſen beſondere und als beſondere abſolute zu ſeyn. — Daß überhaupt Sittlichkeit nichts Höchſtes ſey, nichts alſo, was Göttern zugeſchrieben werden könnte, erhellt aus dem Gegenſatz, den ſie an der Glückſeligkeit hat, und in dem eigentlich alles Endliche befangen iſt. Wie Sittlichkeit Aufnahme des Endlichen oder Beſonderen ins Unendliche, ſo Seligkeit Aufnahme des Unendlichen ins Endliche oder Beſondere. In der erſten, wo das Beſondere ins Allgemeine aufgenommen wird, unterliegt das Beſondere dem Geſetz als dem Allgemeinen, es verhält ſich wie der Körper, der der Schwere gehorcht 1. Die Götter, in deren Natur beide Einheiten vereinigt ſind, leben eben deßwegen kein abhängiges und bedingtes, ſondern ein freies und unabhängiges Leben, ſie genießen als beſondere gleichwohl die Seligkeit des Abſoluten, und umgekehrt (Streben nach Seligkeit = Stre- ben, der Abſolutheit als ein Beſonderes zu genießen), ein Verhältniß, wovon nur etwa an den Weltkörpern, als den erſten ſinnlichen Bildern der Götter, ein Beiſpiel, die zugleich als beſondere abſolut — in ſich ſelbſt —, und hinwiederum in ihrer Abſolutheit beſondere, und dem- nach zugleich außer dem Centro und im Centro ſind. Inſofern nun beide Einheiten in ihrer Abſolutheit einander in ſich ſchließen, weil das Beſondere nicht abſolut ſeyn kann, ohne eben dadurch auch wieder im Abſoluten zu ſeyn, und inwiefern in dieſem Betracht Seligkeit und Sittlichkeit wieder ein und daſſelbe ſind, kann man auch ſagen, die Götter ſeyen eben deßwegen abſolut ſittlich, weil ſie abſolut ſelig ſind. §. 33. Das Grundgeſetz aller Götterbildungen iſt 1 Vgl. Philoſophie und Religion, S. 61. D. H.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/73>, abgerufen am 24.11.2024.