Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

Neueren öfter zu diesem Fall recurrirt haben, große Verbrechen vorzu-
stellen, ohne das Edle der Sitten dadurch aufzuheben, und deßwegen die
Nothwendigkeit des Verbrechens in die Gewalt eines unbezwinglichen
Charakters zu legen, wie Shakespeare sehr oft gethan hat. Da die
griechische Tragödie so ganz sittlich und auf die höchste Sittlich-
keit eigentlich gegründet ist, so kann in ihr auch über die eigentlich
sittliche Stimmung, wenigstens in der letzten Instanz, keine Frage
mehr seyn.

Die Totalität der Darstellung fordert, daß auch in den Sitten
der Tragödie Abstufungen stattfinden, und besonders Sophokles ver-
stand mit den wenigsten Personen nicht nur überhaupt die größte Wir-
kung, sondern in dieser Begrenzung auch eine geschlossene Totalität
der Sitten hervorzubringen.

In dem Gebrauch dessen, was Aristoteles das thaumaston,
das Außerordentliche nennt, unterscheidet das Drama sich sehr wesentlich
von dem epischen Gedicht. Das epische Gedicht stellt einen glücklichen
Zustand dar, eine ungetheilte Welt, wo Götter und Menschen eins
sind. Hier ist, wie wir schon sagten, die Dazwischenkunft der Götter
nicht wunderbar, weil sie zu dieser Welt selbst gehören. Das Drama
ruht schon mehr oder weniger auf einer getheilten Welt, indem es
Nothwendigkeit und Freiheit sich entgegensetzt. Hier würde die Erschei-
nung der Götter, wofern sie auf dieselbe Weise wie im Epos stattfände,
den Charakter des Wunderbaren annehmen. Da nämlich im Drama
kein Zufall, und alles entweder äußerlich oder innerlich nothwendig
seyn soll, so könnten die Götter nur wegen einer Nothwendigkeit, die
in ihnen selbst läge, also nur insofern sie selbst mithandelnde oder wenig-
stens in die Handlung ursprünglich verwickelte Personen sind, in ihr
erscheinen, keineswegs aber um den handelnden Personen, vornehmlich
aber der Hauptperson entweder zu Hülfe zu kommen, oder feindlich zu
begegnen (wie in der Ilias). Denn der Held der Tragödie soll und
muß den Kampf für sich allein ausfechten; nur durch die sittliche Größe
seiner Seele soll er ihn bestehen, und die äußere Heilung und Hülfe,
welche Götter ihm gewähren können, genügt nicht einmal seinem

Neueren öfter zu dieſem Fall recurrirt haben, große Verbrechen vorzu-
ſtellen, ohne das Edle der Sitten dadurch aufzuheben, und deßwegen die
Nothwendigkeit des Verbrechens in die Gewalt eines unbezwinglichen
Charakters zu legen, wie Shakeſpeare ſehr oft gethan hat. Da die
griechiſche Tragödie ſo ganz ſittlich und auf die höchſte Sittlich-
keit eigentlich gegründet iſt, ſo kann in ihr auch über die eigentlich
ſittliche Stimmung, wenigſtens in der letzten Inſtanz, keine Frage
mehr ſeyn.

Die Totalität der Darſtellung fordert, daß auch in den Sitten
der Tragödie Abſtufungen ſtattfinden, und beſonders Sophokles ver-
ſtand mit den wenigſten Perſonen nicht nur überhaupt die größte Wir-
kung, ſondern in dieſer Begrenzung auch eine geſchloſſene Totalität
der Sitten hervorzubringen.

In dem Gebrauch deſſen, was Ariſtoteles das ϑαυμαστόν,
das Außerordentliche nennt, unterſcheidet das Drama ſich ſehr weſentlich
von dem epiſchen Gedicht. Das epiſche Gedicht ſtellt einen glücklichen
Zuſtand dar, eine ungetheilte Welt, wo Götter und Menſchen eins
ſind. Hier iſt, wie wir ſchon ſagten, die Dazwiſchenkunft der Götter
nicht wunderbar, weil ſie zu dieſer Welt ſelbſt gehören. Das Drama
ruht ſchon mehr oder weniger auf einer getheilten Welt, indem es
Nothwendigkeit und Freiheit ſich entgegenſetzt. Hier würde die Erſchei-
nung der Götter, wofern ſie auf dieſelbe Weiſe wie im Epos ſtattfände,
den Charakter des Wunderbaren annehmen. Da nämlich im Drama
kein Zufall, und alles entweder äußerlich oder innerlich nothwendig
ſeyn ſoll, ſo könnten die Götter nur wegen einer Nothwendigkeit, die
in ihnen ſelbſt läge, alſo nur inſofern ſie ſelbſt mithandelnde oder wenig-
ſtens in die Handlung urſprünglich verwickelte Perſonen ſind, in ihr
erſcheinen, keineswegs aber um den handelnden Perſonen, vornehmlich
aber der Hauptperſon entweder zu Hülfe zu kommen, oder feindlich zu
begegnen (wie in der Ilias). Denn der Held der Tragödie ſoll und
muß den Kampf für ſich allein ausfechten; nur durch die ſittliche Größe
ſeiner Seele ſoll er ihn beſtehen, und die äußere Heilung und Hülfe,
welche Götter ihm gewähren können, genügt nicht einmal ſeinem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0378" n="702"/>
Neueren öfter zu die&#x017F;em Fall recurrirt haben, große Verbrechen vorzu-<lb/>
&#x017F;tellen, ohne das Edle der Sitten dadurch aufzuheben, und deßwegen die<lb/>
Nothwendigkeit des Verbrechens in die Gewalt eines unbezwinglichen<lb/>
Charakters zu legen, wie Shake&#x017F;peare &#x017F;ehr oft gethan hat. Da die<lb/>
griechi&#x017F;che Tragödie &#x017F;o ganz &#x017F;ittlich und auf die höch&#x017F;te Sittlich-<lb/>
keit eigentlich gegründet i&#x017F;t, &#x017F;o kann in ihr auch über die eigentlich<lb/>
&#x017F;ittliche Stimmung, wenig&#x017F;tens in der letzten In&#x017F;tanz, keine Frage<lb/>
mehr &#x017F;eyn.</p><lb/>
              <p>Die Totalität der Dar&#x017F;tellung fordert, daß auch in den Sitten<lb/>
der Tragödie Ab&#x017F;tufungen &#x017F;tattfinden, und be&#x017F;onders Sophokles ver-<lb/>
&#x017F;tand mit den wenig&#x017F;ten Per&#x017F;onen nicht nur überhaupt die größte Wir-<lb/>
kung, &#x017F;ondern in die&#x017F;er Begrenzung auch eine ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene Totalität<lb/>
der Sitten hervorzubringen.</p><lb/>
              <p>In dem Gebrauch de&#x017F;&#x017F;en, was Ari&#x017F;toteles das &#x03D1;&#x03B1;&#x03C5;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C3;&#x03C4;&#x03CC;&#x03BD;,<lb/>
das Außerordentliche nennt, unter&#x017F;cheidet das Drama &#x017F;ich &#x017F;ehr we&#x017F;entlich<lb/>
von dem epi&#x017F;chen Gedicht. Das epi&#x017F;che Gedicht &#x017F;tellt einen glücklichen<lb/>
Zu&#x017F;tand dar, eine ungetheilte Welt, wo Götter und Men&#x017F;chen eins<lb/>
&#x017F;ind. Hier i&#x017F;t, wie wir &#x017F;chon &#x017F;agten, die Dazwi&#x017F;chenkunft der Götter<lb/>
nicht wunderbar, weil &#x017F;ie zu die&#x017F;er Welt &#x017F;elb&#x017F;t gehören. Das Drama<lb/>
ruht &#x017F;chon mehr oder weniger auf einer getheilten Welt, indem es<lb/>
Nothwendigkeit und Freiheit &#x017F;ich entgegen&#x017F;etzt. Hier würde die Er&#x017F;chei-<lb/>
nung der Götter, wofern &#x017F;ie auf die&#x017F;elbe Wei&#x017F;e wie im Epos &#x017F;tattfände,<lb/>
den Charakter des Wunderbaren annehmen. Da nämlich im Drama<lb/>
kein Zufall, und alles entweder äußerlich oder innerlich <hi rendition="#g">nothwendig</hi><lb/>
&#x017F;eyn &#x017F;oll, &#x017F;o könnten die Götter nur wegen einer Nothwendigkeit, die<lb/>
in ihnen &#x017F;elb&#x017F;t läge, al&#x017F;o nur in&#x017F;ofern &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t mithandelnde oder wenig-<lb/>
&#x017F;tens in die Handlung ur&#x017F;prünglich verwickelte Per&#x017F;onen &#x017F;ind, in ihr<lb/>
er&#x017F;cheinen, keineswegs aber um den handelnden Per&#x017F;onen, vornehmlich<lb/>
aber der Hauptper&#x017F;on entweder zu Hülfe zu kommen, oder feindlich zu<lb/>
begegnen (wie in der Ilias). Denn der Held der Tragödie &#x017F;oll und<lb/>
muß den Kampf für &#x017F;ich allein ausfechten; nur durch die &#x017F;ittliche Größe<lb/>
&#x017F;einer Seele &#x017F;oll er ihn be&#x017F;tehen, und die äußere Heilung und Hülfe,<lb/>
welche Götter ihm gewähren können, <hi rendition="#g">genügt</hi> nicht einmal &#x017F;einem<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[702/0378] Neueren öfter zu dieſem Fall recurrirt haben, große Verbrechen vorzu- ſtellen, ohne das Edle der Sitten dadurch aufzuheben, und deßwegen die Nothwendigkeit des Verbrechens in die Gewalt eines unbezwinglichen Charakters zu legen, wie Shakeſpeare ſehr oft gethan hat. Da die griechiſche Tragödie ſo ganz ſittlich und auf die höchſte Sittlich- keit eigentlich gegründet iſt, ſo kann in ihr auch über die eigentlich ſittliche Stimmung, wenigſtens in der letzten Inſtanz, keine Frage mehr ſeyn. Die Totalität der Darſtellung fordert, daß auch in den Sitten der Tragödie Abſtufungen ſtattfinden, und beſonders Sophokles ver- ſtand mit den wenigſten Perſonen nicht nur überhaupt die größte Wir- kung, ſondern in dieſer Begrenzung auch eine geſchloſſene Totalität der Sitten hervorzubringen. In dem Gebrauch deſſen, was Ariſtoteles das ϑαυμαστόν, das Außerordentliche nennt, unterſcheidet das Drama ſich ſehr weſentlich von dem epiſchen Gedicht. Das epiſche Gedicht ſtellt einen glücklichen Zuſtand dar, eine ungetheilte Welt, wo Götter und Menſchen eins ſind. Hier iſt, wie wir ſchon ſagten, die Dazwiſchenkunft der Götter nicht wunderbar, weil ſie zu dieſer Welt ſelbſt gehören. Das Drama ruht ſchon mehr oder weniger auf einer getheilten Welt, indem es Nothwendigkeit und Freiheit ſich entgegenſetzt. Hier würde die Erſchei- nung der Götter, wofern ſie auf dieſelbe Weiſe wie im Epos ſtattfände, den Charakter des Wunderbaren annehmen. Da nämlich im Drama kein Zufall, und alles entweder äußerlich oder innerlich nothwendig ſeyn ſoll, ſo könnten die Götter nur wegen einer Nothwendigkeit, die in ihnen ſelbſt läge, alſo nur inſofern ſie ſelbſt mithandelnde oder wenig- ſtens in die Handlung urſprünglich verwickelte Perſonen ſind, in ihr erſcheinen, keineswegs aber um den handelnden Perſonen, vornehmlich aber der Hauptperſon entweder zu Hülfe zu kommen, oder feindlich zu begegnen (wie in der Ilias). Denn der Held der Tragödie ſoll und muß den Kampf für ſich allein ausfechten; nur durch die ſittliche Größe ſeiner Seele ſoll er ihn beſtehen, und die äußere Heilung und Hülfe, welche Götter ihm gewähren können, genügt nicht einmal ſeinem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/378
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 702. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/378>, abgerufen am 19.05.2024.