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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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wie sehr selbst Künstler untereinander in ihren Urtheilen nicht nur
verschieden, sondern entgegengesetzt sind. Dieses Phänomen ist sehr
leicht zu erklären. In den Zeitaltern der blühenden Kunst ist es die
Nothwendigkeit des allgemein herrschenden Geistes, das Glück und gleich-
sam der Frühling der Zeit, der unter den großen Meistern mehr oder
weniger die allgemeine Uebereinstimmung hervorbringt, so daß, wie dieß
auch die Geschichte der Kunst zeigt, die großen Werke gedrängt auf-
einander, fast zu gleicher Zeit, wie von einem gemeinschaftlichen Hauch
und unter einer gemeinsamen Sonne, entstehen und reifen. Albrecht
Dürer zugleich mit Raphael, Cervantes und Calderon zugleich mit
Shakespeare. Wenn ein solches Zeitalter des Glücks und der reinen
Produktion vorbei ist, so tritt die Reflexion und mit ihr die allgemeine
Entzweiung ein; was dort lebendiger Geist war, wird hier Ueberlie-
ferung.

Die Richtung der alten Künstler war vom Centrum gegen die
Peripherie. Die späteren nehmen die äußerlich abgehobene Form und
suchen sie unmittelbar nachzuahmen; sie behalten den Schatten ohne den
Körper. Jeder bildet sich nun seine eignen, besonderen Gesichtspunkte
für die Kunst, und beurtheilt selbst das Vorhandene darnach. Die
einen, welche das Leere der Form ohne den Inhalt bemerken, predigen
die Rückkehr zur Materialität durch Nachahmung der Natur, die an-
dern, die sich über jenen leeren und hohlen äußerlichen Abhub der
Form nicht schwingen, predigen das Idealische, die Nachahmung des
schon Gebildeten; keiner aber kehrt zu den wahren Urquellen der Kunst
zurück, aus denen Form und Stoff ungetrennt strömt. Mehr oder
weniger ist dieß der gegenwärtige Zustand der Kunst und des Kunst-
urtheils. So mannichfaltig die Kunst in sich selbst ist, so mannichfaltig
und nuancirt sind die verschiedenen Gesichtspunkte der Beurtheilung.
Keiner der Streitenden versteht den andern. Sie beurtheilen, der eine
nach dem Maßstab der Wahrheit, der andere nach dem der Schönheit,
ohne daß ein einziger wüßte, was Wahrheit oder was Schönheit ist.
Unter den eigentlich praktischen Künstlern einer solchen Zeit ist also mit
wenigen Ausnahmen nichts über das Wesen der Kunst zu erfahren,

wie ſehr ſelbſt Künſtler untereinander in ihren Urtheilen nicht nur
verſchieden, ſondern entgegengeſetzt ſind. Dieſes Phänomen iſt ſehr
leicht zu erklären. In den Zeitaltern der blühenden Kunſt iſt es die
Nothwendigkeit des allgemein herrſchenden Geiſtes, das Glück und gleich-
ſam der Frühling der Zeit, der unter den großen Meiſtern mehr oder
weniger die allgemeine Uebereinſtimmung hervorbringt, ſo daß, wie dieß
auch die Geſchichte der Kunſt zeigt, die großen Werke gedrängt auf-
einander, faſt zu gleicher Zeit, wie von einem gemeinſchaftlichen Hauch
und unter einer gemeinſamen Sonne, entſtehen und reifen. Albrecht
Dürer zugleich mit Raphael, Cervantes und Calderon zugleich mit
Shakespeare. Wenn ein ſolches Zeitalter des Glücks und der reinen
Produktion vorbei iſt, ſo tritt die Reflexion und mit ihr die allgemeine
Entzweiung ein; was dort lebendiger Geiſt war, wird hier Ueberlie-
ferung.

Die Richtung der alten Künſtler war vom Centrum gegen die
Peripherie. Die ſpäteren nehmen die äußerlich abgehobene Form und
ſuchen ſie unmittelbar nachzuahmen; ſie behalten den Schatten ohne den
Körper. Jeder bildet ſich nun ſeine eignen, beſonderen Geſichtspunkte
für die Kunſt, und beurtheilt ſelbſt das Vorhandene darnach. Die
einen, welche das Leere der Form ohne den Inhalt bemerken, predigen
die Rückkehr zur Materialität durch Nachahmung der Natur, die an-
dern, die ſich über jenen leeren und hohlen äußerlichen Abhub der
Form nicht ſchwingen, predigen das Idealiſche, die Nachahmung des
ſchon Gebildeten; keiner aber kehrt zu den wahren Urquellen der Kunſt
zurück, aus denen Form und Stoff ungetrennt ſtrömt. Mehr oder
weniger iſt dieß der gegenwärtige Zuſtand der Kunſt und des Kunſt-
urtheils. So mannichfaltig die Kunſt in ſich ſelbſt iſt, ſo mannichfaltig
und nuancirt ſind die verſchiedenen Geſichtspunkte der Beurtheilung.
Keiner der Streitenden verſteht den andern. Sie beurtheilen, der eine
nach dem Maßſtab der Wahrheit, der andere nach dem der Schönheit,
ohne daß ein einziger wüßte, was Wahrheit oder was Schönheit iſt.
Unter den eigentlich praktiſchen Künſtlern einer ſolchen Zeit iſt alſo mit
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[360/0036] wie ſehr ſelbſt Künſtler untereinander in ihren Urtheilen nicht nur verſchieden, ſondern entgegengeſetzt ſind. Dieſes Phänomen iſt ſehr leicht zu erklären. In den Zeitaltern der blühenden Kunſt iſt es die Nothwendigkeit des allgemein herrſchenden Geiſtes, das Glück und gleich- ſam der Frühling der Zeit, der unter den großen Meiſtern mehr oder weniger die allgemeine Uebereinſtimmung hervorbringt, ſo daß, wie dieß auch die Geſchichte der Kunſt zeigt, die großen Werke gedrängt auf- einander, faſt zu gleicher Zeit, wie von einem gemeinſchaftlichen Hauch und unter einer gemeinſamen Sonne, entſtehen und reifen. Albrecht Dürer zugleich mit Raphael, Cervantes und Calderon zugleich mit Shakespeare. Wenn ein ſolches Zeitalter des Glücks und der reinen Produktion vorbei iſt, ſo tritt die Reflexion und mit ihr die allgemeine Entzweiung ein; was dort lebendiger Geiſt war, wird hier Ueberlie- ferung. Die Richtung der alten Künſtler war vom Centrum gegen die Peripherie. Die ſpäteren nehmen die äußerlich abgehobene Form und ſuchen ſie unmittelbar nachzuahmen; ſie behalten den Schatten ohne den Körper. Jeder bildet ſich nun ſeine eignen, beſonderen Geſichtspunkte für die Kunſt, und beurtheilt ſelbſt das Vorhandene darnach. Die einen, welche das Leere der Form ohne den Inhalt bemerken, predigen die Rückkehr zur Materialität durch Nachahmung der Natur, die an- dern, die ſich über jenen leeren und hohlen äußerlichen Abhub der Form nicht ſchwingen, predigen das Idealiſche, die Nachahmung des ſchon Gebildeten; keiner aber kehrt zu den wahren Urquellen der Kunſt zurück, aus denen Form und Stoff ungetrennt ſtrömt. Mehr oder weniger iſt dieß der gegenwärtige Zuſtand der Kunſt und des Kunſt- urtheils. So mannichfaltig die Kunſt in ſich ſelbſt iſt, ſo mannichfaltig und nuancirt ſind die verſchiedenen Geſichtspunkte der Beurtheilung. Keiner der Streitenden verſteht den andern. Sie beurtheilen, der eine nach dem Maßſtab der Wahrheit, der andere nach dem der Schönheit, ohne daß ein einziger wüßte, was Wahrheit oder was Schönheit iſt. Unter den eigentlich praktiſchen Künſtlern einer ſolchen Zeit iſt alſo mit wenigen Ausnahmen nichts über das Weſen der Kunſt zu erfahren,

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/36>, abgerufen am 27.11.2024.