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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Daraus folgt natürlich, daß fast die gesammte Unzahl dessen, was
man Roman nennt, -- wie Fallstaff seine Miliz Futter für Pulver
nennt, -- Futter für den Hunger der Menschen ist, für den Hunger
nach materieller Täuschung und für den unersättlichen Schlund der
Geistesleere und derjenigen Zeit, die vertrieben seyn will.

Es wird nicht zu viel seyn zu behaupten, daß es bis jetzt nur
zwei Romane gibt, nämlich den Don Quixote des Cervantes und den
Wilhelm Meister von Goethe, jener der herrlichsten, dieser der gedie-
gensten Nation angehörig. Don Quixote ist nicht nach den frühesten
deutschen Uebersetzungen zu beurtheilen, wo die Poesie vernichtet, der
organische Bau aufgehoben ist. Man braucht sich des Don Quixote
nur zu erinnern, um einzusehen, was der Begriff von einer durch das
Genie eines Einzelnen erschaffenen Mythologie sagen will. Don Quixote
und Sancho Pansa sind mythologische Personen über den ganzen gebil-
deten Erdkreis, sowie die Geschichte von den Windmühlen u. s. w.
wahre Mythen sind, mythologische Sagen. Was in der beschränkten
Conception eines untergeordneten Geistes nur als Satyre einer bestimm-
ten Thorheit gemeint geschienen hätte, das hat der Dichter durch die
allerglücklichste der Erfindungen in das universellste, sinnvollste und pit-
toreskeste Bild des Lebens verwandelt. Daß diese Eine Erfindung durch
das Ganze hinläuft, und dann nur aufs reichste variirt erscheint, nir-
gend also eine Zusammenstückelung sichtbar wird, gibt ihm einen beson-
ders großen Charakter. Indeß ist doch in dem Ganzen ein offenbarer
und sehr entschiedener Gegensatz, und die beiden Hälften könnte man
weder ganz unschicklich noch ganz unwahr die Ilias und die Odyssee
des Romans nennen. Das Thema im Ganzen ist das Reale im Kampf
mit dem Idealen. In der ersten Hälfte des Werks wird das Ideale
nur natürlich-realistisch behandelt, d. h. das Ideale des Helden stößt
sich nur an der gewöhnlichen Welt und den gewöhnlichen Bewegungen
derselben, im andern Theil wird es mystificirt, d. h. die Welt, mit
der es in Conflikt kommt, ist selbst eine ideale, nicht die gewöhnliche,
wie in der Odyssee die Insel der Kalypso gleichsam eine fingirtere Welt
ist als die, in welcher die Ilias sich bewegt, und wie hier die Kirke

Daraus folgt natürlich, daß faſt die geſammte Unzahl deſſen, was
man Roman nennt, — wie Fallſtaff ſeine Miliz Futter für Pulver
nennt, — Futter für den Hunger der Menſchen iſt, für den Hunger
nach materieller Täuſchung und für den unerſättlichen Schlund der
Geiſtesleere und derjenigen Zeit, die vertrieben ſeyn will.

Es wird nicht zu viel ſeyn zu behaupten, daß es bis jetzt nur
zwei Romane gibt, nämlich den Don Quixote des Cervantes und den
Wilhelm Meiſter von Goethe, jener der herrlichſten, dieſer der gedie-
genſten Nation angehörig. Don Quixote iſt nicht nach den früheſten
deutſchen Ueberſetzungen zu beurtheilen, wo die Poeſie vernichtet, der
organiſche Bau aufgehoben iſt. Man braucht ſich des Don Quixote
nur zu erinnern, um einzuſehen, was der Begriff von einer durch das
Genie eines Einzelnen erſchaffenen Mythologie ſagen will. Don Quixote
und Sancho Panſa ſind mythologiſche Perſonen über den ganzen gebil-
deten Erdkreis, ſowie die Geſchichte von den Windmühlen u. ſ. w.
wahre Mythen ſind, mythologiſche Sagen. Was in der beſchränkten
Conception eines untergeordneten Geiſtes nur als Satyre einer beſtimm-
ten Thorheit gemeint geſchienen hätte, das hat der Dichter durch die
allerglücklichſte der Erfindungen in das univerſellſte, ſinnvollſte und pit-
toreskeſte Bild des Lebens verwandelt. Daß dieſe Eine Erfindung durch
das Ganze hinläuft, und dann nur aufs reichſte variirt erſcheint, nir-
gend alſo eine Zuſammenſtückelung ſichtbar wird, gibt ihm einen beſon-
ders großen Charakter. Indeß iſt doch in dem Ganzen ein offenbarer
und ſehr entſchiedener Gegenſatz, und die beiden Hälften könnte man
weder ganz unſchicklich noch ganz unwahr die Ilias und die Odyſſee
des Romans nennen. Das Thema im Ganzen iſt das Reale im Kampf
mit dem Idealen. In der erſten Hälfte des Werks wird das Ideale
nur natürlich-realiſtiſch behandelt, d. h. das Ideale des Helden ſtößt
ſich nur an der gewöhnlichen Welt und den gewöhnlichen Bewegungen
derſelben, im andern Theil wird es myſtificirt, d. h. die Welt, mit
der es in Conflikt kommt, iſt ſelbſt eine ideale, nicht die gewöhnliche,
wie in der Odyſſee die Inſel der Kalypſo gleichſam eine fingirtere Welt
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[679/0355] Daraus folgt natürlich, daß faſt die geſammte Unzahl deſſen, was man Roman nennt, — wie Fallſtaff ſeine Miliz Futter für Pulver nennt, — Futter für den Hunger der Menſchen iſt, für den Hunger nach materieller Täuſchung und für den unerſättlichen Schlund der Geiſtesleere und derjenigen Zeit, die vertrieben ſeyn will. Es wird nicht zu viel ſeyn zu behaupten, daß es bis jetzt nur zwei Romane gibt, nämlich den Don Quixote des Cervantes und den Wilhelm Meiſter von Goethe, jener der herrlichſten, dieſer der gedie- genſten Nation angehörig. Don Quixote iſt nicht nach den früheſten deutſchen Ueberſetzungen zu beurtheilen, wo die Poeſie vernichtet, der organiſche Bau aufgehoben iſt. Man braucht ſich des Don Quixote nur zu erinnern, um einzuſehen, was der Begriff von einer durch das Genie eines Einzelnen erſchaffenen Mythologie ſagen will. Don Quixote und Sancho Panſa ſind mythologiſche Perſonen über den ganzen gebil- deten Erdkreis, ſowie die Geſchichte von den Windmühlen u. ſ. w. wahre Mythen ſind, mythologiſche Sagen. Was in der beſchränkten Conception eines untergeordneten Geiſtes nur als Satyre einer beſtimm- ten Thorheit gemeint geſchienen hätte, das hat der Dichter durch die allerglücklichſte der Erfindungen in das univerſellſte, ſinnvollſte und pit- toreskeſte Bild des Lebens verwandelt. Daß dieſe Eine Erfindung durch das Ganze hinläuft, und dann nur aufs reichſte variirt erſcheint, nir- gend alſo eine Zuſammenſtückelung ſichtbar wird, gibt ihm einen beſon- ders großen Charakter. Indeß iſt doch in dem Ganzen ein offenbarer und ſehr entſchiedener Gegenſatz, und die beiden Hälften könnte man weder ganz unſchicklich noch ganz unwahr die Ilias und die Odyſſee des Romans nennen. Das Thema im Ganzen iſt das Reale im Kampf mit dem Idealen. In der erſten Hälfte des Werks wird das Ideale nur natürlich-realiſtiſch behandelt, d. h. das Ideale des Helden ſtößt ſich nur an der gewöhnlichen Welt und den gewöhnlichen Bewegungen derſelben, im andern Theil wird es myſtificirt, d. h. die Welt, mit der es in Conflikt kommt, iſt ſelbſt eine ideale, nicht die gewöhnliche, wie in der Odyſſee die Inſel der Kalypſo gleichſam eine fingirtere Welt iſt als die, in welcher die Ilias ſich bewegt, und wie hier die Kirke

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 679. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/355>, abgerufen am 17.05.2024.