Geistes weit unmittelbarer als die Natur erkennen läßt. Interessirt es uns, den Bau, die innere Anlage, die Beziehungen und Verwickelungen eines Gewächses oder eines organischen Wesens überhaupt so weit wie möglich zu verfolgen, wie viel mehr müßte es uns reizen, dieselben Verwickelungen und Beziehungen in den noch viel höher organisirten und in sich selbst verschlungeneren Gewächsen zu erkennen, die man Kunstwerke nennt.
Den meisten geht es mit der Kunst, wie es dem Meister Jourdain bei Moliere 1 mit der Prosa ging, der sich wunderte, sein ganzes Leben Prosa gesprochen zu haben, ohne es zu wissen. Die wenigsten überlegen, daß schon die Sprache, in der sie sich ausdrücken, das vollkommenste Kunstwerk ist. Wie viele haben vor einem Theater gestanden, ohne sich nur einmal die Frage aufzuwerfen, wie viele Bedingungen zu einer auch nur einigermaßen vollkommenen theatralischen Erscheinung erfordert werden; wie viele den edlen Eindruck einer schönen Architek- tur empfunden, ohne Versuchung den Gründen der Harmonie nachzu- spüren, die sie daraus angesprochen hat! Wie viele haben ein einzelnes Gedicht oder ein hohes dramatisches Werk auf sich wirken lassen, und sind dadurch bewegt, entzückt, erschüttert worden, ohne je zu unter- suchen, durch welche Mittel es dem Künstler gelingt, ihr Gemüth zu beherrschen, ihre Seele zu reinigen, ihr Innerstes aufzuregen -- ohne den Gedanken, diesen ganz passiven und insofern unedlen Genuß in den weit höheren der thätigen Beschauung und der Reconstruktion des Kunstwerks durch den Verstand zu verwandeln!
Derjenige wird für roh und ungebildet geachtet, der die Kunst überall nicht auf sich einfließen lassen und ihre Wirkungen erfahren will. Aber es ist, wenn nicht in demselben Grade, doch dem Geiste nach ebenso roh, die bloß sinnlichen Rührungen, sinnlichen Affekter, oder sinnliches Wohlgefallen, welche Kunstwerke erwecken, für Wirkungen der Kunst als solche zu halten.
Für den, der es in der Kunst nicht zur freien, zugleich leidenden
1Bourgeois gentilhomme, Act. II, Scene 4.
Geiſtes weit unmittelbarer als die Natur erkennen läßt. Intereſſirt es uns, den Bau, die innere Anlage, die Beziehungen und Verwickelungen eines Gewächſes oder eines organiſchen Weſens überhaupt ſo weit wie möglich zu verfolgen, wie viel mehr müßte es uns reizen, dieſelben Verwickelungen und Beziehungen in den noch viel höher organiſirten und in ſich ſelbſt verſchlungeneren Gewächſen zu erkennen, die man Kunſtwerke nennt.
Den meiſten geht es mit der Kunſt, wie es dem Meiſter Jourdain bei Molière 1 mit der Proſa ging, der ſich wunderte, ſein ganzes Leben Proſa geſprochen zu haben, ohne es zu wiſſen. Die wenigſten überlegen, daß ſchon die Sprache, in der ſie ſich ausdrücken, das vollkommenſte Kunſtwerk iſt. Wie viele haben vor einem Theater geſtanden, ohne ſich nur einmal die Frage aufzuwerfen, wie viele Bedingungen zu einer auch nur einigermaßen vollkommenen theatraliſchen Erſcheinung erfordert werden; wie viele den edlen Eindruck einer ſchönen Architek- tur empfunden, ohne Verſuchung den Gründen der Harmonie nachzu- ſpüren, die ſie daraus angeſprochen hat! Wie viele haben ein einzelnes Gedicht oder ein hohes dramatiſches Werk auf ſich wirken laſſen, und ſind dadurch bewegt, entzückt, erſchüttert worden, ohne je zu unter- ſuchen, durch welche Mittel es dem Künſtler gelingt, ihr Gemüth zu beherrſchen, ihre Seele zu reinigen, ihr Innerſtes aufzuregen — ohne den Gedanken, dieſen ganz paſſiven und inſofern unedlen Genuß in den weit höheren der thätigen Beſchauung und der Reconſtruktion des Kunſtwerks durch den Verſtand zu verwandeln!
Derjenige wird für roh und ungebildet geachtet, der die Kunſt überall nicht auf ſich einfließen laſſen und ihre Wirkungen erfahren will. Aber es iſt, wenn nicht in demſelben Grade, doch dem Geiſte nach ebenſo roh, die bloß ſinnlichen Rührungen, ſinnlichen Affekter, oder ſinnliches Wohlgefallen, welche Kunſtwerke erwecken, für Wirkungen der Kunſt als ſolche zu halten.
Für den, der es in der Kunſt nicht zur freien, zugleich leidenden
1Bourgeois gentilhomme, Act. II, Scène 4.
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Geiſtes weit unmittelbarer als die Natur erkennen läßt. Intereſſirt es
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eines Gewächſes oder eines organiſchen Weſens überhaupt ſo weit wie
möglich zu verfolgen, wie viel mehr müßte es uns reizen, dieſelben
Verwickelungen und Beziehungen in den noch viel höher organiſirten
und in ſich ſelbſt verſchlungeneren Gewächſen zu erkennen, die man
Kunſtwerke nennt.
Den meiſten geht es mit der Kunſt, wie es dem Meiſter Jourdain
bei Molière 1 mit der Proſa ging, der ſich wunderte, ſein ganzes
Leben Proſa geſprochen zu haben, ohne es zu wiſſen. Die wenigſten
überlegen, daß ſchon die Sprache, in der ſie ſich ausdrücken, das
vollkommenſte Kunſtwerk iſt. Wie viele haben vor einem Theater geſtanden,
ohne ſich nur einmal die Frage aufzuwerfen, wie viele Bedingungen zu
einer auch nur einigermaßen vollkommenen theatraliſchen Erſcheinung
erfordert werden; wie viele den edlen Eindruck einer ſchönen Architek-
tur empfunden, ohne Verſuchung den Gründen der Harmonie nachzu-
ſpüren, die ſie daraus angeſprochen hat! Wie viele haben ein einzelnes
Gedicht oder ein hohes dramatiſches Werk auf ſich wirken laſſen, und
ſind dadurch bewegt, entzückt, erſchüttert worden, ohne je zu unter-
ſuchen, durch welche Mittel es dem Künſtler gelingt, ihr Gemüth zu
beherrſchen, ihre Seele zu reinigen, ihr Innerſtes aufzuregen — ohne
den Gedanken, dieſen ganz paſſiven und inſofern unedlen Genuß in
den weit höheren der thätigen Beſchauung und der Reconſtruktion des
Kunſtwerks durch den Verſtand zu verwandeln!
Derjenige wird für roh und ungebildet geachtet, der die Kunſt
überall nicht auf ſich einfließen laſſen und ihre Wirkungen erfahren
will. Aber es iſt, wenn nicht in demſelben Grade, doch dem Geiſte
nach ebenſo roh, die bloß ſinnlichen Rührungen, ſinnlichen Affekter, oder
ſinnliches Wohlgefallen, welche Kunſtwerke erwecken, für Wirkungen
der Kunſt als ſolche zu halten.
Für den, der es in der Kunſt nicht zur freien, zugleich leidenden
1 Bourgeois gentilhomme, Act. II, Scène 4.
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/34>, abgerufen am 27.11.2024.
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