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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Zeit auch in Deutschland wieder aufgelebt durch Voßens Luise, ob-
gleich er die Ungünstigkeit des Locals nicht überwinden konnte, und was
den Reiz, die Frischheit der Farben, die Lebendigkeit natürlicher Aeuße-
rungen betrifft, zu dem theokritischen Geist fast ganz das Verhältniß
des nördlichen Deutschlands zu der Schönheit der sicilischen Fluren
beobachtet. Die Italiener und Spanier haben auch in der Idylle das
romantische Princip geltend gemacht, aber innerhalb der Begrenzung
der Gattung, aber da ich nur den Pastor fido des Guarini kenne, so
kann ich auch nur diesen als Beispiel anführen. Das Wesen der Ro-
mantik ist, daß es durch Gegensätze zum Ziel kommt und nicht sowohl
die Identität als Totalität darstellt. So auch in der Gattung der
Idylle. Das Derbe, rein und streng Gesonderte ist im Pastor fido
in einige Charaktere gelegt und der Gegensatz dazu in anderen gegeben.
Auf diese Weise hat das Ganze das Antike überschritten und doch die
Gattung behauptet. Uebrigens hat die Idylle im Pastor fido eine wirk-
liche dramatische Höhe erreicht, und doch ließe sich zeigen, daß die
Schicksallosigkeit der Idylle, die von der einen Seite darin aufgehoben,
doch von der anderen wieder hergestellt ist. -- Befreundung der Idylle
mit allen Formen. Vorzügliche Hinneigung zum Dramatischen, wei
die Darstellung noch objektiver. Schäferromane (Galatea des Cer-
vantes).

Unter denjenigen epischen Formen, welche durch ein Uebergewicht
der Subjektivität in der Darstellung aus der Indifferenz der Gat-
tung heraustreten, ist das Lehrgedicht selbst wieder die subjektivere
Form. Wir haben vor allem ohne Zweifel die Möglichkeit eines
Lehrgedichts zu untersuchen, worunter hier, wie sich versteht, die poe-
tische Möglichkeit gemeint ist. Man kann erstens gegen die Gattung
im Allgemeinen, also auch gegen die Satyre anführen, daß sie noth-
wendig einen Zweck hat, das Lehrgedicht zu lehren, die Satyre zu
strafen, und daß sie, weil alle schöne Kunst nach außen ohne Zweck ist,
beide nicht als Formen derselben gedacht werden können. Allein es ist
mit diesem an sich wichtigen Grundsatz nicht gesagt, daß die Kunst
nicht einen von ihr unabhängig vorhandenen Zweck oder ein wirkliches

Zeit auch in Deutſchland wieder aufgelebt durch Voßens Luiſe, ob-
gleich er die Ungünſtigkeit des Locals nicht überwinden konnte, und was
den Reiz, die Friſchheit der Farben, die Lebendigkeit natürlicher Aeuße-
rungen betrifft, zu dem theokritiſchen Geiſt faſt ganz das Verhältniß
des nördlichen Deutſchlands zu der Schönheit der ſiciliſchen Fluren
beobachtet. Die Italiener und Spanier haben auch in der Idylle das
romantiſche Princip geltend gemacht, aber innerhalb der Begrenzung
der Gattung, aber da ich nur den Pastor fido des Guarini kenne, ſo
kann ich auch nur dieſen als Beiſpiel anführen. Das Weſen der Ro-
mantik iſt, daß es durch Gegenſätze zum Ziel kommt und nicht ſowohl
die Identität als Totalität darſtellt. So auch in der Gattung der
Idylle. Das Derbe, rein und ſtreng Geſonderte iſt im Pastor fido
in einige Charaktere gelegt und der Gegenſatz dazu in anderen gegeben.
Auf dieſe Weiſe hat das Ganze das Antike überſchritten und doch die
Gattung behauptet. Uebrigens hat die Idylle im Pastor fido eine wirk-
liche dramatiſche Höhe erreicht, und doch ließe ſich zeigen, daß die
Schickſalloſigkeit der Idylle, die von der einen Seite darin aufgehoben,
doch von der anderen wieder hergeſtellt iſt. — Befreundung der Idylle
mit allen Formen. Vorzügliche Hinneigung zum Dramatiſchen, wei
die Darſtellung noch objektiver. Schäferromane (Galatea des Cer-
vantes).

Unter denjenigen epiſchen Formen, welche durch ein Uebergewicht
der Subjektivität in der Darſtellung aus der Indifferenz der Gat-
tung heraustreten, iſt das Lehrgedicht ſelbſt wieder die ſubjektivere
Form. Wir haben vor allem ohne Zweifel die Möglichkeit eines
Lehrgedichts zu unterſuchen, worunter hier, wie ſich verſteht, die poe-
tiſche Möglichkeit gemeint iſt. Man kann erſtens gegen die Gattung
im Allgemeinen, alſo auch gegen die Satyre anführen, daß ſie noth-
wendig einen Zweck hat, das Lehrgedicht zu lehren, die Satyre zu
ſtrafen, und daß ſie, weil alle ſchöne Kunſt nach außen ohne Zweck iſt,
beide nicht als Formen derſelben gedacht werden können. Allein es iſt
mit dieſem an ſich wichtigen Grundſatz nicht geſagt, daß die Kunſt
nicht einen von ihr unabhängig vorhandenen Zweck oder ein wirkliches

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[662/0338] Zeit auch in Deutſchland wieder aufgelebt durch Voßens Luiſe, ob- gleich er die Ungünſtigkeit des Locals nicht überwinden konnte, und was den Reiz, die Friſchheit der Farben, die Lebendigkeit natürlicher Aeuße- rungen betrifft, zu dem theokritiſchen Geiſt faſt ganz das Verhältniß des nördlichen Deutſchlands zu der Schönheit der ſiciliſchen Fluren beobachtet. Die Italiener und Spanier haben auch in der Idylle das romantiſche Princip geltend gemacht, aber innerhalb der Begrenzung der Gattung, aber da ich nur den Pastor fido des Guarini kenne, ſo kann ich auch nur dieſen als Beiſpiel anführen. Das Weſen der Ro- mantik iſt, daß es durch Gegenſätze zum Ziel kommt und nicht ſowohl die Identität als Totalität darſtellt. So auch in der Gattung der Idylle. Das Derbe, rein und ſtreng Geſonderte iſt im Pastor fido in einige Charaktere gelegt und der Gegenſatz dazu in anderen gegeben. Auf dieſe Weiſe hat das Ganze das Antike überſchritten und doch die Gattung behauptet. Uebrigens hat die Idylle im Pastor fido eine wirk- liche dramatiſche Höhe erreicht, und doch ließe ſich zeigen, daß die Schickſalloſigkeit der Idylle, die von der einen Seite darin aufgehoben, doch von der anderen wieder hergeſtellt iſt. — Befreundung der Idylle mit allen Formen. Vorzügliche Hinneigung zum Dramatiſchen, wei die Darſtellung noch objektiver. Schäferromane (Galatea des Cer- vantes). Unter denjenigen epiſchen Formen, welche durch ein Uebergewicht der Subjektivität in der Darſtellung aus der Indifferenz der Gat- tung heraustreten, iſt das Lehrgedicht ſelbſt wieder die ſubjektivere Form. Wir haben vor allem ohne Zweifel die Möglichkeit eines Lehrgedichts zu unterſuchen, worunter hier, wie ſich verſteht, die poe- tiſche Möglichkeit gemeint iſt. Man kann erſtens gegen die Gattung im Allgemeinen, alſo auch gegen die Satyre anführen, daß ſie noth- wendig einen Zweck hat, das Lehrgedicht zu lehren, die Satyre zu ſtrafen, und daß ſie, weil alle ſchöne Kunſt nach außen ohne Zweck iſt, beide nicht als Formen derſelben gedacht werden können. Allein es iſt mit dieſem an ſich wichtigen Grundſatz nicht geſagt, daß die Kunſt nicht einen von ihr unabhängig vorhandenen Zweck oder ein wirkliches

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 662. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/338>, abgerufen am 22.11.2024.